Schwerpunkt
Zug um Zug
Wir bauen um: Vorrang für die Eisenbahnindustrie!
Österreichs größtes Hindernis auf dem Weg zu den Klimazielen ist und bleibt der Verkehr. Doch auf das Auto wird nur verzichtet, wenn es eine Alternative gibt. Der öffentliche Verkehr braucht daher einen massiven Ausbau. Unzählige Kilometer an Schienen müssen produziert und verlegt, neue Züge entworfen und gebaut werden. Beides leistet die in Österreich stark vertretene Bahnindustrie. Sie ist unsere Lokomotive auf dem Weg zu den Klimazielen.
So soll in Österreich laut „Mobilitätsmasterplan 2030“ im Bahnverkehr das Transportvolumen von derzeit 14,5 Milliarden Personenkilometern auf 24 Milliarden im Jahr 2040 gesteigert werden. Der Schienengüterverkehr müsste sich im gleichen Zeitraum auf rund 36 Milliarden Tonnenkilometer verdoppeln. Um diese Ziele zu erreichen, sind ehrgeizige und langfristig gesicherte Investitionen sowohl in den Bahnstreckenausbau (festgehalten im „Zielnetz 2040“) als auch in das rollende Material notwendig.
Auch die Europäische Union will den Schienengüterverkehr bis 2030 um 50 Prozent steigern und bis 2050 verdoppeln. Noch rasanter soll der Hochgeschwindigkeitsverkehr wachsen, um eine Alternative zum Flugverkehr zu bieten: Verdoppelung bis 2030, Verdreifachung bis 2050. Das kostet Geld. Eine kürzlich veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass allein für den Ausbau des transnationalen Kernnetzes (TEN-T) bis 2030 rund 500 Milliarden Euro in die Infrastruktur investiert werden müssen. Darüber hinaus hat die Kommission selbst errechnet, dass EU-weit 46 Milliarden Euro für Schienenfahrzeuge anfallen – pro Jahr. Die Einführung des Europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems (ERMTS), das mehr Sicherheit und eine höhere Netzkapazität ermöglicht, erfordert bis 2050 weitere 190 Milliarden Euro. Ohne genaue Daten zu nennen, kündigte der neue EU-Verkehrskommissar Apóstolos Tzitzikóstas an, er werde mit „einem Plan zur Förderung des Hochgeschwindigkeitsschienenverkehrs, der die Haupt- und Großstädte der EU verbindet“, beginnen. Damit will er die Menschen und Unternehmen ermutigen, „auf den nachhaltigen Schienenverkehr umzusteigen“.
Plan ist ein gutes Stichwort. Denn für die Erreichung der genannten, ehrgeizigen EU-Verkehrsziele fehlt ein solcher noch. Während es sich bei der Ansiedelung strategisch wichtiger Technologien in Europa um „wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse“ handelt, fehlt ein vergleichbares politisches Kooperationsvorhaben zur Förderung und Skalierung der bereits erfolgreichen Schieneninfrastruktur- und Rollmaterialindustrie.
AK beauftragt Studie
Um das Potenzial der heimischen Bahnindustrie auszuloten, hat die AK eine umfassende Studie mit dem Arbeitstitel „Mobilitätswende produzieren“ bei der Johannes Kepler Universität in Auftrag gegeben. Darin werden Geschichte und Struktur der Bahnbranche analysiert und der volkswirtschaftliche Nutzen des Bahnausbaus mittels Input-Output-Analysen kalkuliert. Die Wissenschaftler:innen führten für die Studie zahlreiche qualitative Interviews mit Manager:innen und Betriebsrät:innen, um deren Einschätzung der Lage sowie Strategien für die Zukunft zu erfragen. Ein Teilprojekt beschäftigt sich auch mit der Frage, ob der Kfz-Standort Steyr auch für die Produktion von Elektrobussen genutzt werden könnte.
Die neue Studie untersucht also die Produktionsbedingungen für den Ausbau gesellschaftlich nützlicher Verkehrsgüter. Die Stärke einer ganzheitlichen wirtschaftspolitischen Betrachtung der Mobilitätswende liegt darin zu zeigen: Die Autos werden nur dann stehen gelassen, wenn es eine Alternative gibt. Die muss auch wiederum hergestellt werden und das ist Arbeit. Deshalb geht es beim sozialen und ökologischen Umbau nicht um einen „naiven Anti-Industrialismus“. Der Umbau unseres Verkehrssystems erfordert enorm viel industrielle Produktion in den verschiedensten Bereichen. Die Bahnindustrie kann auf diesem Weg die Lokomotive sein.
Österreichs Industrie in der Krise
In den anhaltenden Debatten um die europäische Wettbewerbsfähigkeit werden Industriekrise und Klimakrise jedoch gegeneinander ausgespielt. Industrie- und Wirtschaftsvertreter schreiben in zahlreichen Presseaussendungen den österreichischen Produktionsstandort runter, um für kurzfristige Profitinteressen zu lobbyieren: Sie wollen weniger Vorgaben (Stichwort Lieferkettengesetz), weniger soziale Absicherung (Senkung der Sozialstaatsbeiträge), schlechtere Arbeitsbedingungen und weniger Steuerung durch die öffentliche Hand. Würde man diesen auf kurzfristige Profite ausgerichteten Forderungen nachkommen, würde man genau den Weg fortsetzen, der in die aktuelle Krise geführt hat.
Der frühere AK-Chefökonom und jetzige Finanzminister Markus Marterbauer zeigt auf, was die großen Krisentreiber waren: Erstens habe die Regierung zu wenig gegen die Teuerung, insbesondere bei den Energiepreisen, unternommen. Zweitens gebe es weltweit zu wenig Investitionen, insbesondere wegen fehlender Planbarkeit für Unternehmen. Drittens hätten österreichische Industriebetriebe ihre Profite zu großen Teilen an ihre Eigentümer:innen ausgeschüttet, statt sie in ihre Unternehmen zu reinvestieren.
Außerdem wird ausgeblendet, dass die häufiger werdenden Krisen auch ökologische Ursachen haben: So wurde die energiepreisgetriebene Teuerung ursprünglich durch die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen befeuert. Oder die Chipkrise, mit der die Debatte um strategische Unabhängigkeit von China bei Zukunftstechnologien hochkochte, wurde durch Extremwetterereignisse verschärft: Brände, Schneestürme und Dürren führten zu den Produktionsausfällen.
Auch die vieldiskutierte Krise der Automobilindustrie ist zwischen Klimazielen und Wettbewerbsfähigkeit umkämpft. Gerade das öffentlich viel diskutierte Hin und Her beim Verbrenner-Aus steht symbolisch dafür, wie kurzsichtig von Industrie-Seite lobbyiert wird. Die Automotive-Krise betrifft auch die österreichische Zulieferindustrie. Allerdings wäre das vor zwei, drei Jahrzehnten noch stärker der Fall gewesen. Denn Österreich ist laut Marterbauer längst kein Autoland mehr, die Kfz-Erzeugung macht gerade noch sechs Prozent der industriellen Wertschöpfung aus.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit entwickelt sich die heimische Bahnindustrie gegenläufig zu einem „Hidden Champion“. Österreich war im Jahr 2021 mit einem Volumen von 1,8 Milliarden Euro weltweit viertgrößter Exporteur von Gütern der Bahnindustrie. Zahlreiche Unternehmen sind Weltmarktführer in ihrem Bereich. Ihr Erfolgsrezept? Die 15.000 direkt in der Bahnindustrie Beschäftigten sind sehr qualifiziert und in hohem Maß gewerkschaftlich organisiert. Das schafft gute Arbeitsbedingungen. Durch öffentliche Investitionen in die Schiene kann die Bahnindustrie langfristig planen. Aufgrund ihrer Berufsstruktur ist sie eine der besten Ersatzbranchen für Beschäftigte der kriselnden Kfz-Zulieferindustrie. Wer einen zukunftsfähigen Ausweg aus der Industriekrise sucht, sollte sich daher die Bahnindustrie genauer ansehen.
Ein Plan für die Bahnindustrie
Die AK hat genau das getan und erkannt: Die heimische Bahnindustrie hat großes Potenzial, die für die europäische Mobilitätswende notwendigen Güter in der erforderlichen Stückzahl zu erzeugen und zahlreiche qualitativ hochwertige Industriearbeitsplätze zu schaffen. Anders formuliert: Die Bahnindustrie ist die stille Heldin unserer Volkswirtschaft! Österreich könnte die Bahnfabrik Europas werden, wenn die Politik den dafür nötigen Plan entwickelt und umsetzt.
Damit die skizzierten Chancen auch tatsächlich genutzt werden können, muss sich eine neue österreichische Regierung zu einer nachfrageseitigen Industriepolitik bekennen. Was meinen wir damit? Eine angebotsseitige Industriepolitik erfolgt über Förderungen. Das geht aber immer mit der Gefahr einer Überförderung oder letztlich nicht erfolgreichen Förderung einher. Im Feld der Bahnindustrie kann österreichische Fertigung über eine höhere europäische Nachfrage und Kriterien für die öffentliche Beschaffung forciert werden. Deshalb sollte trotz angespannter Budgets auch hierzulande nicht beim Bahnausbau gespart werden. Kürzungen beim „Zielnetz 2040“ und bei den ÖBB-Rahmenplänen würden unsere gut aufgestellte Bahnindustrie schwächen. Sie braucht Planungssicherheit durch langfristige öffentliche Investitionen. Auch auf europäischer Ebene müssen die ehrgeizigen Verkehrsziele beibehalten und durch einen Umsetzungsplan ergänzt werden.
Außerdem verdient die Bahnindustrie eine Innovationsstrategie, in der Unternehmen, Universitäten, Verwaltung und Förderinstitutionen gut kooperieren. Diese darf jedoch nicht „von oben herab“ verordnet werden. Konkrete und regionale Konzepte sind nur dann erfolgreich, wenn sie gemeinsam mit der Belegschaft erarbeitet werden. Die vorhandene Schwarmintelligenz und das Know-how der Beschäftigten spielen bei Umstrukturierungen eine große Rolle. Nicht zuletzt könnte der Staat Instrumente der Übernahme oder Beteiligung nutzen, wenn gefährdete Betriebe zu Produzenten der Mobilitätswende umgerüstet werden können.
Chancen für den sozialen und ökologischen Umbau
All dies kann die AK auf Basis der Studie der Johannes Kepler Universität für die Mobilitätswende konkretisieren. Es braucht ein Gesamtpaket gut abgestimmter Maßnahmen, das die Beschäftigten und ihr Recht auf gute und nachhaltige Mobilität in den Mittelpunkt stellt. Die Stärkung der Bahnindustrie bedeutet, den Ausbau klimafreundlicher Infrastrukturen für das gute Leben für alle auch produktionsseitig sicherzustellen. Damit setzt die AK den Verzichtsdebatten mit erhobenem Zeigefinger und dem Verteilungskampf von oben, der mit dem Schleier der „Wettbewerbsfähigkeit“ maskiert wird, etwas entgegen: eine Wirtschaftspolitik für die Vielen.