Betrieb

Bei Amazon Österreich wurde ein Arbeiter:innenbetriebsrat gewählt

Im November 2024 haben die Arbeiter:innen bei Amazon erstmals einen Betriebsrat gegründet. Gegen die Gründung gibt es allerdings eine Nichtigkeitsklage des Arbeitgebers wegen vermuteter Unregelmäßigkeiten im Wahlvorgang. Es sind öffentlich aber keine Wahlberechtigten in Erscheinung getreten, um die Wahl anzufechten. Was die genauen Beweggründe für die Klage sind, ist der Gewerkschaft vida somit schleierhaft. Zumal Amazon die Wahl zunächst begrüßt hatte und die Erfahrungen mit dem bereits bestehenden Angestellten-Betriebsrat gut sind.

„Die Arbeit ist ja auch mein Baby“

Zum Zeitpunkt des Gespräches befindet sich Jorge Plaut gerade in Hirschwang an der Rax. Von der Arbeit im Lager ist er als Betriebsrat freigestellt und absolviert gerade seinen ALBA-Kurs. Dieser „Aufbaulehrgang für betriebsrätliche Arbeit“ dient dazu, die sprachlichen und fachlichen Kompetenzen der Räte zu stärken. Das Wissen wird in den Kursen von Fachtrainer:innen vermittelt und später mit Deutschlehrer:innen aufgearbeitet.

Plaut hat als Spätschicht-Mitarbeiter und Willkommens-Ambassador gearbeitet und neue Kolleg:innen in den Betrieb eingeführt. Er kennt somit viele Arbeiter:innen und hat einen guten Draht zum Management. Aufgewachsen ist er in Venezuela, wo er eine Ausbildung zum Wirtschaftsingenieur gemacht hat. Durch das venezolanische Nationalproduktionsgesetz können nur Konzerne nach Venezuela importieren, die zugleich im Land produzieren. So durfte Plaut als internationaler Einkäufer für Nissan und Kawasaki arbeiten. Der Arbeitsdruck sei enorm gewesen, die häufigen Ausfälle von Wasser und Strom haben ihn das Improvisieren auf die harte Tour gelehrt. 

Ob damals in Venezuela oder jetzt in Österreich, seiner Grundhaltung ist er treu geblieben. Die Arbeit, sagt der Familienvater lachend, sei ja auch sein Baby und die soll gut funktionieren. In Venezuela habe er das Gefühl gehabt, ständig mindestens 130 km/h fahren zu müssen und das war ihm irgendwann zu viel. Sein Großvater ist Österreicher und Plaut entschied sich nach Europa zu siedeln und begann drei Tage vor seinem 35. Geburtstag noch seinen Dienst im Bundesheer zu absolvieren.

Anstellung fand er im Lager Großebersdorf. Es war das erste von Amazon in Österreich. Bis zu 850 Menschen arbeiten dort in Spitzenzeiten, aber nur 150 sind bei Amazon angestellt, die anderen werden über die Leiharbeitsfirma Adecco zugeteilt. Zuerst arbeite man immer bei einer Leiharbeitsfirma, dies helfe wohl Kosten sparen und sei für das Unternehmen eine Art Filter. Die Leiharbeiter:innen werden, nach Einschätzung Plauts, gut bezahlt, der Nachteil liege aber in der Notwendigkeit, immer verfügbar zu sein. Sonntags sind die Amazon-Lager übrigens geschlossen, an dem Tag darf nur die Post arbeiten.

Wir sind Tausendsassa

Mit ein paar Klischees möchte Jorge Plaut aufräumen. Es sei nicht verboten, aufs Klo zu gehen. Allerdings fällt dies manchmal schwer, weil punktuell großer Zeitdruck entsteht. Ein Förderband liefert über seine vier „Finger“ die Pakete an die Kolleg:innen, die am Ende des Bandes die großen Versandtaschen für die Auslieferungsfahrzeuge beladen. Wenn die Person, die die Finger beschickt, wegen eines Klobesuchs ausfällt, kann das Förderband kollabieren und die anderen können nicht weiterarbeiten. Dass Mitarbeiter:innen verantwortungsvoll und solidarisch agieren und sich deshalb ein dringendes Bedürfnis verkneifen müssen, kann kaum im Sinne des Lagerbetreibers sein. Hier wäre der Dialog mit dem Betriebsrat sinnvoll.

Ein Betriebsrat bietet die Chance zu mehr integriertem Denken, wie Jorge Plaut betont. Denn nicht alles ist mit digitaler Datenerfassung vorhersehbar. Bei starkem Regen schaffen es die Lieferanten nicht, alle Pakete zuzustellen. Fünf bis sechs Prozent der Pakete kommen manchmal zurück und plötzlich ist das Team überlastet. Auch den umgekehrten Fall gibt es: In der Halle steht die Arbeit still, weil alles bereits sortiert ist. Was tun, wenn die Schicht um 22:30 Uhr endet, aber um 21 Uhr bereits alles getan ist? Früher gehen wäre eine Minusstunde. Hier ist das informelle Wissen der Arbeiter:innen gefragt, die on the ground die Abläufe kennen und auf besondere Situationen reagieren können. Bei aller Digitalisierung: Amazon braucht seine Tausendsassas in der Halle. 

Die Lager selbst liegen meist „weit draußen“ und sind vom öffentlichen Verkehr abgeschnitten. Amazon bietet Shuttleservices, aber manche Mitarbeiter:innen sind aufgrund der mangelhaften Öffi-Anbindung gezwungen, schon Stunden vor Schichtbeginn zu erscheinen. Hier könnten leicht Verbesserungen erzielt werden. Plaut hat den nötigen Kampfesmut und will vermitteln. „Ich bin nett und freundlich und das hilft“, meint er. Einfach wird es nicht, denn er ist für fünf Standorte zuständig, die eigentlich jeweils ihre eigene ganze Betriebsrät:innenstelle bräuchten.  

Ein Betriebsrat als wichtige Schnittstelle

Jorge Plaut lobt das Unternehmen immer wieder, auch wenn nicht alles so gut sei, wie es sein könnte. Plaut verweist auf die gesellschaftspolitisch wichtige soziale Funktion von Amazon. Das Zulieferunternehmen gibt weniger Qualifizierten eine Chance. Insbesondere fordere das Unternehmen nicht umfassende Deutschkenntnisse und das erleichtert vielen den Einstieg in ihr erstes Beschäftigungsverhältnis. 

Die Arbeit sei physisch und psychisch anspruchsvoll und durch Sprachbarrieren wird es manchmal kompliziert. Deutsch sei grundsätzlich die Sprache aller, aber auch Englisch wird zu Hilfe genommen. Manchmal gelingt die Kommunikation nur über Ecken, indem andere Muttersprachler:innen herbeigerufen werden. In den Hallen von Amazon Österreich arbeiten Menschen aus 180 Ländern. Viele stammen aus Syrien, Afghanistan, dem Mittleren Osten, und im neu gegründeten Arbeiter:innenbetriebsrat sprechen die meisten Mitglieder Arabisch. 

Die Erfahrung von Demokratie und der Möglichkeit von Mitbestimmung sei für einige neu. Sie stammen aus Ländern, in denen es beispielsweise keine Kollektivverträge gibt. Die Aufklärung über die eigenen Rechte und Pflichten sieht Jorge Plaut als eine zentrale Aufgabe. In den Lagerhallen von Amazon werden also nicht nur die Weihnachtspakete der Österreicher:innen auf das richtige Rack sortiert, es wird auch an einer neuen Gesellschaft gebaut. Eine, die Menschen unterschiedlicher sozialer, gesellschaftlicher und kultureller Hintergründe zusammenführt. Ob es manchmal Probleme gibt? Klar, für manchen sei die Religion sehr wichtig und dann kann es schon mal unnötig kompliziert werden, aber am Ende ist es ja nicht so entscheidend, was man glaubt, sondern wie man gut zusammenarbeiten kann. Und das geht mit einem Arbeiter:innenbetriebsrat sicherlich besser.