Betrieb
Teefabrik unter Selbstverwaltung
Die Auslagerungen von Produktion in Billiglohnländer und die damit verbundenen Schließungen nationaler Produktionsstätten machen auch vor Österreich nicht halt. Im Sommer 2020 wurde die Schließung des ATB-Motorenwerkes in Spielberg bekannt gegeben. Beim MAN-Werk in Steyr bangt die Belegschaft um einen neuen Investor. Mit der Auflassung ihres Standortes sahen sich auch die Arbeiter*innen einer französischen Teefabrik in Gémenos konfrontiert. Die Fabrik gehörte ursprünglich zum multinationalen Konzern Unilever. Dieser gab 2010 bekannt, die Produktion aus Kostengründen nach Polen zu verlagern. Das Angebot einer Relokalisierung und Arbeitsplätze am polnischen Standort lehnten die 182 Mitarbeiter*innen ab – sie wollten ihre Arbeitsplätze und ihre Fabrik behalten.
Um Druck auf Unilever auszuüben, besetzten die Arbeiter*innen die Fabrik. Es folgte ein 3,5-jähriger Rechtsstreit gegen Unilever, der vor allem durch eine breite Solidaritätskampagne der Öffentlichkeit, von Gewerkschaften und Politiker*innen getragen wurde.
Arbeitskampf und Autonomie
Während des Verfahrens, das von 2010 bis 2014 (insgesamt 1336 Tage) dauerte, wurden Unilevers Pläne zur Schließung der Fabrik mehrfach vom französischen Justizministerium für nicht rechtmäßig erklärt und die Sozialpläne als unzureichend beurteilt. Im Mai 2014 einigten sich Unilever und die Arbeiter*innen schließlich auf eine Abfindung von 20 Mio. Euro. Außerdem überließ Unilever den Arbeiter*innen die Fabrik, damit diese die Teeproduktion in einem von ihnen geführten Unternehmen wiederaufnehmen können.
Im August 2014 gründeten 58 verbleibende Arbeiter*innen die Genossenschaft SCOP TI, Société Coopérative Ouvrière Provençale de Thés et Infusions. Zentrale Werte ihrer Unternehmensführung sind Autonomie und Selbstverwaltung, Demokratie, Solidarität mit der globalen Arbeiter*innenbewegung und anderen antikapitalistischen Unternehmen, sowie ein Bewusstsein für die Auswirkungen der Fabrik auf die Umwelt. Die Produktion wurde neu ausgerichtet und heute wird in der Fabrik unter zwei eigenen Marken regionaler und biologischer Tee hergestellt. Außerdem legt SCOP TI Wert darauf, den Handel mit anderen Genossenschaften und kleinen und unabhängigen Vertriebspartner*innen zu stärken.
Alltag bei SCOP TI
Seit der Zeit unter Unilever eint die Genossenschaftsmitglieder ihre Ablehnung von Hierarchien. Als gleichberechtigter Teil der Genossenschaft übernimmt jedes Mitglied Verantwortung und trifft Entscheidungen über seine Arbeit und die Produktion der Fabrik. Die Teilhabe an gestalterischen Prozessen, sowie die dadurch entstehende Autonomie, Entscheidungen über ihr Arbeitsleben zu treffen, bewirkte eine tiefgreifende Veränderung im Selbstverständnis der Arbeiter*innen. Heute nehmen sie ihre Tätigkeit und ihre Rolle in der Fabrik als sinnstiftend wahr. Ein Teil der Arbeiter*innen absolvierte Umschulungen und übernahm neue Tätigkeitsbereiche. Jene, die weiterhin in ihren ursprünglichen Bereichen arbeiten, rotieren heute ihre Positionen. Insbesondere schätzen die Genossenschaftsmitglieder ihr von solidarischen Beziehungen geprägtes Arbeitsklima, in dem sie sich stets um Kollegialität, Toleranz und Transparenz bemühen.
Veränderungen lassen sich jedoch nicht nur auf individueller, sondern auch auf kollektiver Ebene feststellen. Die Arbeiter*innen verstehen ihre Erwerbstätigkeit heute nicht mehr als bloßes Mittel zur Einkommenssicherung. Sie sehen sich als Teil von etwas Größerem: einer globalen Bewegung, die wirtschaftliche Alternativen aufzeigt und Unternehmen führt, die im Kontrast zu kapitalistischen Firmen stehen. Wo Menschen miteinander arbeiten, gibt es auch viele Berührungspunkte. Außerdem ermöglicht es ihnen, langfristigen Zielen eine höhere Priorität beizumessen als individuellen und kurzfristigen Interessen. Zentral hierfür sind die demokratischen Entscheidungsprozesse. Während ein gewählter und rotierender Vorstand für den täglichen Betrieb verantwortlich ist, werden für richtungsweisende Entscheidungen Generalversammlungen einberufen. Bei diesen ist Raum für Diskussion und alle Mitglieder stimmen über die weitere Vorgehensweise ab. Die Transparenz im Unternehmen wird außerdem durch die räumliche Neuorganisation gefördert. Heute befinden sich alle Abteilungen in einem Fabriksgebäude, so dass es zum täglichen Austausch unterschiedlicher Arbeiter*innen kommt.
Herausforderungen und Potenziale
Trotz dieser bedeutsamen Errungenschaften gilt auch für SCOP TI: Wo Menschen miteinander arbeiten, gibt es auch viele Reibungspunkte. Interne Konflikte entstehen, weil es den Genossenschaftsmitgliedern nicht immer gelingt, ihre Werte in die Praxis umzusetzen. Frust entsteht insbesondere, weil die Partizipation der Arbeiter*innen sinkt, wobei einige sich trotz institutionalisierter Entscheidungsfindungsprozesse nicht gehört fühlen. Außerdem ist die Genossenschaft damit konfrontiert, ihren Werten trotz der Anforderungen des kapitalistischen Marktes und der andauernden finanziell prekären Situation treu zu bleiben. Obwohl sich die Arbeiter*innen dieser Spannungen bewusst sind, bleibt es eine Herausforderung, sie aufzulösen. Dass sie als Kollektiv über die Konflikte reflektieren und diese nicht bloß als Schwäche des Unternehmens, sondern als Stärke und treibende Kraft für Veränderung bewerten, eröffnet ihnen Chancen zur Bewältigung. Trotz der Konflikte und der Herausforderung, eine wirtschaftliche Alternative innerhalb des kapitalistischen Marktes zu leben, bietet SCOP TI Anknüpfungspunkte für die Umsetzung der Mitbestimmung von Arbeiter*innen und einer Just Transition innerhalb klimaschädlicher Industrien, auch in Österreich.