Schwerpunkt

Biodiversität

Biodiversität in der Krise

Der Begriff Biodiversität setzt sich aus dem griechischen bios (das Leben) und dem lateinischen diversitas (die Vielfalt) zusammen und bezeichnet die Vielfalt des Lebens. Er umfasst alle Tiere und Pflanzen und alle Lebensräume der Erde. Gesunde Ökosysteme sind die Basis für unsere Gesundheit, Wirtschaft, Ernährung und Lebensqualität. Sie bilden gleichzeitig die Grundlage für den Wohlstand, der im Laufe der letzten Jahrzehnte erwirtschaftet wurde. Leider geht dies auf Kosten der Natur, wie sich immer mehr herausstellt. Die Wissenschaft ist sich einig, dass wir an unsere planetaren Grenzen stoßen, mit negativen Auswirkungen sowohl für die Umwelt als auch für die Menschen. Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) warnte bereits 2019 eindringlich, dass sich der Zustand der Ökosysteme in einer extremen Geschwindigkeit verschlechtert und der Verlust der Artenvielfalt beschleunigt. Die Wissenschafter:innen sprechen von einem nie dagewesenen Massensterben. Mehr als 85 Prozent der weltweiten Feuchtgebiete sind in den letzten Jahrhunderten durch menschliches Zutun verloren gegangen. 33 Prozent der Korallenriffe und Meeressäugetiere in ihrer Existenz gefährdet. Von den acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit sind eine Million Arten vom Aussterben bedroht, wenn nicht gegengesteuert wird. Auch die Wissenschafter:innen des Weltklimarates warnen in ihrem jüngst erschienen Klimabericht sehr eindringlich: Ohne dringende, wirksame und gerechte Maßnahmen zur Eindämmung und Anpassung bedroht die Klimaerhitzung zunehmend Ökosysteme, die biologische Vielfalt sowie die Lebensgrundlagen, die Gesundheit und das Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen.

Treiber der Biodiversitätskrise 

Die fünf Haupttreiber für den Verlust an biologischer Vielfalt sind laut Weltbiodiversitätsrat die Veränderungen bei der Land- und Meeresnutzung, übermäßige Ressourcennutzung, Klimawandel, Umweltverschmutzung und invasive gebietsfremde Arten, die vor allem über den weltweiten Handel eingeschleppt werden. Der Verlust von Biodiversität ist im Alltag sowohl sichtbar als auch spürbar: Einkaufszentren auf der grünen Wiese, ausgeräumte Landschaften, weniger bis gar keine Insekten auf der Windschutzscheibe, Wiesen die vor ihrer Blüte gemäht werden, Pollenallergien, die bereits über 20 Prozent aller Menschen beeinträchtigt, sich häufende Hochwässer und Murenabgänge und weitere Extremwettererscheinungen. 

Insbesondere die intensive Landwirtschaft trägt erheblich zum Verlust der Biodiversität bei. Die Abholzung von Wäldern für die Landnutzung hat große Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Weltweit werden 37 Prozent der Landoberfläche für die Lebensmittelproduktion genutzt. Fast 80 Prozent der Waldrodungen werden für den Anbau von Futter- und Lebensmitteln durchgeführt oder als Weideflächen verwendet. Aber auch Pestizide und andere Schadstoffe wirken sich negativ auf den Verlust von Arten und Lebensräumen aus. Bienen, Spinnen, Insekten und in der Nahrungskette somit auch Vögel, sind besonders gefährdet. In Europa betrifft diese Bedrohung eine von zehn Bienen- und Schmetterlingsarten sowie 13 Prozent der Vögel. Es gibt aber auch Lösungen: Eine französische Studie zeigt, dass in der Landwirtschaft bei fast gleichem Ertrag, die Hälfte der eingesetzten Pestizide eingespart werden kann. Daher ist auch die Halbierung des Pestizideinsatzes im Weltnaturschutzabkommen, in der EU und in der österreichischen Biodiversitätsstrategie als Ziel formuliert. 

Österreich liegt im Trend 

Auch vor Österreich macht das Artensterben nicht halt. So sind laut Umweltkontrollbericht 44 Prozent der Lebensräume und 34 Prozent der Arten in einem ungünstig-schlechten Zustand.  Besonders besorgniserregend sind die Erhaltungszustände der Lebensraumtypen und Arten in den Ökosystemen Salzlebensräume und Dünen, Süßwasserlebensräume und Moore. Auch der Erhaltungszustand von Käfern, Reptilien, Fischen, Krebsen, Amphibien und der niederen Pflanzen ist besorgniserregend. Die Zahl der Insekten, die zentral zum Erhalt der biologischen Vielfalt und über ihre Bestäubungsleistung wesentlich zur Ernährungssicherung beitragen, ist rückläufig. Die österreichische Biodiversitätsstrategie soll hier eine Trendumkehr einleiten. Die Ziele orientieren sich an denen der EU-Biodiversitätsstrategie und ein umfassendes Maßnahmenbündel ist vorgesehen. Was es für die Umsetzung braucht, sind gute Rahmenbedingungen, wie eine ausreichende Finanzierung. Der Biodiversitätsrat spricht von einer Milliarde Euro, die jährlich zur Verfügung gestellt werden sollte. In Österreich obliegt der Natur- und Biodiversitätsschutz den Bundesländern. Ein Bundes-Biodiversitätsgesetz hätte den Vorteil einen verbindlich rechtlichen Rahmen zur Umsetzung von Maßnahmen zu schaffen. 

Zwillingskrisen und Lösungen 

Die Biodiversitätskrise und die Klimakrise sind untrennbar miteinander verbunden. Der Klimawandel beschleunigt die Zerstörung der natürlichen Welt durch Dürren, Überschwemmungen und Flächenbrände, während der Verlust und die nicht nachhaltige Nutzung der Natur wiederum Hauptursachen des Klimawandels sind. Die beiden Krisen können nur miteinander gelöst werden. Der aktive Schutz von Arten und Lebensräumen kann das Leben sowohl in der Stadt als auch am Land erheblich verbessern. Mehr Grün in den Städten wirkt kühlend und damit gegen Hitzeinseln, was die Lebensqualität steigert. Gleichzeitig werden die Folgen von Starkregen vermindert und die Biodiversität gestärkt. Intakte Moore, artenreiches Grünland und weniger Monokulturen am Feld bringen gleich mehrere Vorteile: Kohlenstoffspeicherung, mehr Bodenfruchtbarkeit und Artenvielfalt. Mehr Artenvielfalt im Wald kann Schädlinge wie den Borkenkäfer besser abwehren und bietet dadurch auch wieder mehr Schutz vor Hangrutschungen oder Muren. Den Flüssen mehr Platz zu geben, verringert die Zahl von Hochwässern und bietet mehr Raum für Artenvielfalt und die so entstehenden Au-Landschaften können auch als Erholungsort genützt werden. 

Europäische Weichenstellungen

Die EU-Kommission stellte bereits im Mai 2020 die EU-Biodiversitätsstrategie 2030 „Mehr Raum für die Natur in unserem Leben“ vor, mit dem Ziel, die Artenvielfalt in Europa bis 2030 zu stärken und den Biodiversitätsverlust zu stoppen. Sie warnt: „Der Verlust an biologischer Vielfalt und der Zusammenbruch von Ökosystemen gehören zu den größten Bedrohungen der Menschheit im nächsten Jahrzehnt. Sie bedroht auch die Grundlagen unserer Wirtschaft, und die Kosten der Untätigkeit sind hoch und werden voraussichtlich noch steigen.“ Um den Verlust an Lebensräumen und Arten zu stoppen sollen bis 2030 mindestens 30 Prozent der europäischen Landfläche (= plus 4 Prozent) und 30 Prozent der Meeresfläche 
(= plus 19 Prozent) geschützt werden. Bereits zerstörte Ökosysteme sollen wiederherstellt werden und damit auch einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten. Zudem sind rechtsverbindliche Ziele für die Wiederherstellung der Natur vorgesehen. Dies betrifft in erster Linie z.B. Moore, da diese das größte Potenzial zur Speicherung von CO2 haben. So könnten negative Auswirkungen und Naturkatastrophen eingedämmt bzw. verhindert werden. Zur Finanzierung sind jährlich 20 Milliarden Euro für den Artenschutz geplant. Diese Strategie ist Teil des europaweiten „Green Deal“ für eine klimafitte Zukunft. 

Sowohl EU-Rat als auch EU-Parlament unterstützen deren Ziele und vorgeschlagenen Maßnahmen. Wenn Österreich die vereinbarten Klimaziele nicht erreicht, werden jährlich Milliarden Euro an Strafzahlungen fällig. Einen ähnlichen Mechanismus fordert das EU-Parlament für die Biodiversität. Denn bisherige EU-Biodiversitätsstrategien erreichten ihre Ziele nicht, weil sie unverbindlich waren. Mit dem Beschluss ihrer Biodiversitätsstrategie 2030 war die EU für die Weltnaturkonferenz der Vereinten Nationen zur biologischen Vielfalt sehr gut vorbereitet, die im Dezember 2022 in Kanada stattfand. In Montreal wurden, nach dem Vorbild des Klimaabkommens in Paris, weitreichende Beschlüsse gefasst (siehe Kasten), die in den folgenden Jahren in die Tat umzusetzen sind. Sollte dies gelingen, könnte tatsächlich eine Trendumkehr zum Schutz der Arten und Lebensräume eingeleitet werden. 

Mögliche Konfliktlinien beim Artenschutz 

Weltweit erlebt der Ausbau der erneuerbaren Energieträger einen Boom. Laut Internationaler Energiebehörde wird von 2022 bis 2027 ihr Anteil am Zuwachs der Kapazitäten für die Stromerzeugung 90 Prozent betragen. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien steht aber oft auch im Konflikt mit dem Erhalt von Lebensräumen. Da die Bereitstellung leistbarer Energie sowohl für die Haushalte wie auch die Wirtschaft erforderlich ist und unabhängige Energiequellen wichtiger denn je sind, könnten konkrete Projekte im Konflikt mit dem Erhalt oder der Wiederherstellung von Lebensräumen stehen. Das Ziel den Pestizideinsatz um 50 Prozent zu reduzieren und die Wiederherstellung der Natur bis 2030 voranzutreiben wird derzeit vor allem von Landwirtschaftsvertreter:innen abgelehnt. Sie fürchten vor allem um die Ernährungssicherheit für Europa. Möglicherweise aber auch um die derzeit attraktiven Preise für landwirtschaftliche Produkte. Schließlich fehlen seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine große Mengen an Getreide, die nun von europäischen Bauern und Bäuerinnen bereitgestellt werden. Gleichzeitig hält sich die Inflation beharrlich, was besonders ärmere Haushalte stärker belastet. Die EU-Kommission erhofft sich durch Verfahren der Neuen Gentechnik Pestizidreduktion und klimafitte Pflanzen. Sie ist bereit, verpflichtende Risikochecks und Kennzeichnung bei Gentechnik aufzuweichen. Auch das könnte sich negativ auf die Artenvielfalt auswirken. Es ist also kein leichtes Unterfangen, all die verschiedenen Ziele zum Schutz der Arten und des Klimas unter einen Hut zu bringen. 

Ein gutes Leben für alle 

Der Schutz der Biodiversität ist ähnlich fordernd wie der Klimaschutz. Bereits seit Eintreten der Klimakrise ist klar: Es gibt kein Weitertun wie bisher. Das gleiche gilt, wenn es darum geht, die Krise der Biodiversität zu stoppen. Damit jedoch eine ambitionierte Klima- und Biodiversitätspolitik von vielen Menschen unterstützt werden kann, müssen die sozialen und ökologischen Fragen konsequent miteinander gedacht und muss bei allen Maßnahmen auf soziale Gerechtigkeit geachtet werden. Daher sind Arbeitnehmer:innenvertretungen umfassend in Programmentwicklungen zum Erhalt der Artenvielfalt und zum Klimaschutz einzubinden. Zur Sicherstellung der Finanzierung wäre auf europäischer Ebene eine „goldene Investitionsregel“ zielführend, die es den Ländern ermöglicht, in biodiversitäts- und klimarelevante Projekte zu investieren, ohne die EU-Budgetregeln zu verletzen. Insgesamt braucht es mehr Verteilungsgerechtigkeit, damit ein gutes Leben für alle gelingen kann.