Schwerpunkt

Umbaukonflikte

Wohlstand: Es geht um Verteilung, nicht um Wachstum

Wachstum ist ein unscharfer Begriff. Die Größe, die gewöhnlich herangezogen wird, wenn es um Wachstum in einem Staat geht, ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das BIP misst den Marktwert der in einem Land zum Zweck des Verkaufs hergestellten Güter und Dienstleistungen, abzüglich der Kosten der nötigen Vorprodukte. Es ist also im Wesentlichen das Einkommen, das in einem Staat erwirtschaftet wird. Häufig wird es mit dem Reichtum eines Staates oder mit dem Wohlstand gleichgesetzt. 

Für eine Messung des Wohlstandes eines Landes ist diese Zahl aber nicht wirklich geeignet. Denn erstens bleiben Leistungen unberücksichtigt, die nicht für den Markt erbracht werden, also nicht entlohnt werden, beispielsweise die Arbeit im Haushalt oder die Freiwilligenarbeit. Zweitens spielt die Verteilung des Einkommens eine zentrale Rolle für den Wohlstand der Menschen: Es macht – bei gleichem BIP – einen enormen Unterschied, ob ganz wenige den größten Teil des Einkommens haben oder ob alle einen ähnlichen Teil des Einkommens erhalten. Auf diese Einschränkungen wies übrigens bereits der „Erfinder“ des BIP, Simon Kuznets, hin, als er 1933 dem US-Kongress seinen Bericht über das Nationale Einkommen vorlegte.

Das BIP als Wohlstandsindikator?

Dennoch wurde in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg das BIP zum Wohlstandsindikator schlechthin. Ein Wachstum des BIP wurde gleichgesetzt mit einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung. Auch für die Vertreterinnen der Arbeitnehmer:innen – Gewerkschaften und Arbeiterkammern – galt über Jahrzehnte neben der Vollbeschäftigung auch das wirtschaftliche Wachstum als erstrebenswert. Dadurch sollten Verteilungskonflikte klein gehalten werden. Aber langfristig ging diese Strategie nicht auf. Die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen ging in den letzten Jahrzehnten teils dramatisch auseinander. In vielen Staaten mussten die Menschen in den niedrigsten Einkommensgruppen langfristig Verringerungen ihres Realeinkommens hinnehmen, obwohl das BIP insgesamt stieg. Das Versprechen, dass jede und jeder mehr vom Kuchen bekommt, wenn der Kuchen größer wird, konnte also nicht eingelöst werden.

Wachstumskritik erschöpft sich aber nicht in der Kritik am BIP als Maßzahl für gesellschaftlichen Wohlstand. Auch das Wachstum selbst wird immer mehr als Problem angesehen. Mit den vielfältigen Umweltkrisen der Gegenwart hat diese Kritik starke Impulse erhalten. Denn in fast allen Fällen führt ein Mehr an wirtschaftlicher Tätigkeit auch zu einem Mehr an Umweltbelastungen. 

Besonders die Bewältigung der Klimakrise steht dabei vor einem Dilemma: Das bisherige Wachstum fußt zu einem wesentlichen Teil auf der Nutzung fossiler Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas. In Österreich haben diese einen Anteil von zwei Drittel des Energieverbrauchs, weltweit beträgt er sogar vier Fünftel. Damit die Gesellschaft dauerhaft bestehen kann, muss sich wirtschaftliche Aktivität, also Produktion und Konsum als zwei Seiten derselben Medaille, innerhalb der planetaren Grenzen bewegen. Voraussetzung dafür ist, dass Material- und Energiedurchsatz auf ein klima- und umweltverträgliches Niveau sinken. Dies ist aber ein Gesichtspunkt, der vom BIP in keiner Weise erfasst wird. Zwischen wirtschaftlicher Aktivität und Material- und Energiedurchsatz lässt sich lediglich ein positiver Zusammenhang feststellen. Das bedeutet, dass unter den gegebenen Umständen eine Verringerung von Material- und Energiedurchsatz eine Dämpfung des Wirtschaftswachstums nach sich ziehen kann, die auch progressive Errungenschaften im Zusammenhang mit dem Sozialstaat vor eine Herausforderung stellen würde. 

Den Ausweg aus diesem Dilemma soll die „Entkoppelung“ weisen, also eine Politik, die die Wirtschaft weiterwachsen lässt, aber die Emissionen an Treibhausgasen reduziert. 

Der Traum von der Entkoppelung 

Das Problem daran ist, dass diese Entkoppelung bislang Phantasie ist. In der Realität ist sie nicht zu beobachten.  Es gibt zwar einige Industriestaaten, in denen in den letzten Jahren die Emissionen trotz Wirtschaftswachstums gesunken sind. Doch dafür ist primär die Verlagerung emissionsintensiver Tätigkeiten in andere Staaten verantwortlich. Für die Eindämmung der Klimakrise müssen CO2-Emissionen aber global rasch sinken. Nationale Berechnungen von CO2-Emissionen haben vor allem deshalb politische Relevanz, weil sie helfen, Vereinbarungen und Verantwortungen auszuhandeln. 

Wenn es also um die Frage geht, wie die Emissionen gesenkt werden können und gleichzeitig das Wohlergehen der Menschen in einem Land sichergestellt werden kann, sind andere Bewertungskriterien der Politik notwendig. Denn eine Politik, die auf die bloße Verringerung des BIP setzt, um die Emissionen an Treibhausgasen zu senken, würde den gleichen Fehler machen wie die einseitige Ausrichtung der Wirtschaftspolitik am Wachstum des BIP. Daher zielen Initiativen für eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik auch stets auf andere Ziele und Indikatoren und nicht bloß auf eine Verringerung des Wachstums.

Tatsächlich lässt sich die Skepsis in der Gewerkschaftsbewegung gegenüber wachstumskritischen Ansätzen volkswirtschaftlich gut erklären. Gewerkschaften kämpfen für Beschäftigung, weil Arbeit die Bedingung für die Existenzsicherung ihrer Mitglieder ist. Im Kapitalismus sind auch Wirtschaftsaktivität und Beschäftigung untrennbar miteinander verbunden. Wenn die Wirtschaftsaktivität sinkt, wirft der Kapitalismus heftige Krisen auf. In Zeiten von Rezessionen waren damit regelmäßig Arbeitslosigkeit, Verarmung, Ausdünnung der sozialen Auffangnetze und der öffentlichen Daseinsvorsorge verbunden. Unter diesen Umständen eine Reduktion der Wirtschaftsaktivität als Problemlösung zu fordern, würde allen Errungenschaften und Zielen der Arbeiter:innenbewegung zuwiderlaufen. Daher macht es Sinn, den Blick hinter das BIP als indirekten Indikator für Wohlstand und Klimazerstörung zu lenken. 

Wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik

Ansätze zu derartigen Neuorientierungen gab es in den letzten Jahren, doch sie rückten durch die weltweite Wirtschaftskrise 2008 und die Pandemie seit 2020 in den Hintergrund. Wegweisend war etwa der Bericht einer Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung der Ökonomen Joseph Stiglitz, Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi, der sich mit neuen Formen der Messung gesellschaftlichen Fortschritts befasste. Dabei wurde deutlich, dass dieser nicht in einer einzigen Maßzahl festgehalten werden kann. Daher verwenden umfassende Beschreibungen der Entwicklung des Wohlergehens der Menschen heute stets mehrere Indikatoren – etwa das Projekt „Wie geht’s Österreich“, das die Statistik Austria von 2012 bis 2022 durchführte, oder der Wohlstandsbericht, den die AK seit 2018 jährlich veröffentlicht.

Eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik muss also an mehreren Kenngrößen ausgerichtet sein. Das bedeutet aber unweigerlich, dass es zu Zielkonflikten kommen kann. Derlei Zielkonflikte lassen sich bei Diskussionen über einen sozialen und ökologischen Umbau vermehrt beobachten. So ist beispielsweise die Elektromobilitätswende mit Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt in der KFZ-Industrie verbunden, die die Beschäftigungssicherheit in ganzen Wirtschaftssektoren gefährdet. Der Weg hin zu klimaneutralen Technologien bedarf seltener Rohstoffe, deren Beschaffung die Bemühungen in Richtung internationaler Gerechtigkeit gegenüber dem globalen Süden oft aushebelt. Auch die Stärke der Gewerkschaften – und damit die soziale Sicherheit und demokratische Mitbestimmung aller Beschäftigten – leidet darunter, wenn die am besten organisierten Industriebranchen an Bedeutung verlieren.  Damit an der Lösung dieser Konflikte gearbeitet werden kann, müssen politische Entscheidungen im Rahmen einer aktiven, gestaltenden Wirtschaftspolitik getroffen werden.

Gerechte Verteilung von Arbeit

Wie muss daher eine Wirtschaftspolitik aussehen, die die Emissionen an Treibhausgasen radikal senkt und gleichzeitig das Wohlergehen aller Menschen in einem Land im Blick hat? Zum einen ist eine gesicherte Produktion für die Deckung der Grundbedürfnisse nötig. Die dafür nötige Arbeit muss gerecht auf die Erwerbsbevölkerung aufgeteilt werden. Wenn die Arbeitsproduktivität – die Menge an erzeugten Gütern und Dienstleistungen, bezogen auf die eingesetzte Arbeitszeit – so wie bisher weiter steigt, kann das nur gelingen, wenn die Arbeitszeit verringert wird. Zum zweiten ist eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes notwendig. Diese wird durch ein gerechtes Steuersystem, aber vor allem durch die Leistungen des gut ausgebauten Sozialstaats sichergestellt. Drittens sind umfangreiche Investitionen notwendig, um die gebaute Umwelt – Gebäude, Verkehrssysteme, Energieanlagen, Unternehmen – so umzugestalten, dass sie emissionsneutral werden, also mittelfristig keine Treibhausgase mehr verursachen. Viertens sind Änderungen in den internationalen Beziehungen nötig, die sicherstellen, dass ein Land wie Österreich seine Emissionen nicht bloß in andere Staaten verlagert und dass auch in anderen Staaten die Menschen gute und sichere Arbeitsbedingungen vorfinden.

Es ist eine offene Frage, wie sich das Bruttoinlandsprodukt unter diesen Bedingungen entwickelt. Diese Frage tritt freilich in den Hintergrund, wenn die geschilderte Politik bewirkt, dass das Wohlergehen der Menschen sichergestellt ist und gleichzeitig die Klima- und Umweltziele erreicht werden.