Schwerpunkt
Biodiversität
Warum Natur- und Klimaschutz Hand in Hand gehen müssen
Seit vielen Jahren verfügt die EU über ein breites Regelwerk im Bereich des Naturschutzes. So wurde mit der Fauna-Flora-Habitat- und der Vogelschutz-Richtlinie das Natura 2000-Gebiet etabliert, welches 18 Prozent der Land- sowie mehr als 8 Prozent der Meeresflächen der EU abdeckt und damit weltweit das größte Netzwerk geschützter Gebiete darstellt. Europas wertvollste und am meisten bedrohte Arten sollen dadurch Zufluchtsorte finden, ihre Lebensräume dauerhaft gesichert werden. Daneben enthalten auch die Wasserrahmenrichtlinie sowie die Verordnung über invasive Arten zentrale Bestimmungen zum Schutz der Biodiversität.
All diese Maßnahmen erweisen sich jedoch als völlig unzureichend, um das derzeit stattfindende massive Artensterben effektiv zu stoppen. Die EU-Biodiversitätsstrategie soll nun Abhilfe schaffen. 2020 beschlossen, enthält sie ambitionierte Ziele wie den Ausbau der Schutzzonen auf mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresgebiete oder die Reduktion des Einsatzes und der Risiken von Pestiziden um 50 Prozent.
Wiederherstellung der Natur
Einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der genannten Ziele soll die im Juni 2022 von der Kommission präsentierte Verordnung zur Wiederherstellung der Natur („Nature Restoration Law“) leisten, mit der geschädigte Ökosysteme renaturiert werden sollen.
Konkret wird angestrebt, bis 2050 insgesamt 90 Prozent der europäischen Lebensräume wiederherzustellen. Betroffen wären dabei alle Arten von Lebensräumen: Land-, Küsten- und Süßwasserökosysteme, Meeresökosysteme, städtische und landwirtschaftliche Ökosysteme.
Mit dem vorgelegten Vorschlag macht die Kommission einen großen Schritt. Angesichts der sich zuspitzenden ökologischen Zwillingskrise – Artensterben und Erderhitzung – sind Gegenmaßnahmen längst überfällig. Zweifellos sind die vorgeschlagenen Ziele daher grundsätzlich zu befürworten. Neben der unbedingt notwendigen Hintanhaltung des Artensterbens, das eine massive Bedrohung unserer Lebensgrundlagen darstellt, hätten die angestrebten Maßnahmen zahlreiche weitere positive Effekte. So ist etwa für städtische Ökosysteme eine Erhöhung des Grünflächenanteils auf mindestens 5 Prozent sowie eine Baumüberschirmungsquote von 10 Prozent bis 2050 vorgesehen – Maßnahmen, die insbesondere im Hinblick auf die Folgen der Klimakrise für die Lebensqualität vieler Menschen äußerst relevant sind.
Fraglich scheint allerdings, ob das Erreichen dieser Ziele im Rahmen des präsentierten Vorschlags möglich ist. Die Mitgliedstaaten hätten lediglich zwei Jahre ab Inkrafttreten der Verordnung, um Wiederherstellungspläne mit den konkret geplanten Maßnahmen zu erarbeiten. Bis 2030 sollen dann die ersten 20 Prozent der sanierungsbedürftigen Ökosysteme wiederhergestellt werden. Dieser sehr straffe Zeitplan scheint aus heutiger Sicht schwierig. Schon für die Erhebung des Zustandes der Ökosysteme ist aufwendige Grundlagenarbeit nötig, ebenso für die Ausarbeitung effektiver Maßnahmen. Für die Umsetzung der ersten Maßnahmen blieben nur noch wenige Jahre. Doch es sind nicht nur die kurzen Fristen, die an der (schnellen) Umsetzbarkeit des Kommissionsvorschlags zweifeln lassen. Durch die Vorgaben der Verordnung würde der Spielraum der Mitgliedstaaten inklusive ihrer Regionen und Kommunen bei der Raumplanung deutlich eingeschränkt. Dies führt nicht nur zu teils sehr großen Widerständen gegen den Vorschlag seitens der Mitgliedstaaten. Es wirft darüber hinaus die Frage auf, wie sich die Vorgaben mit anderen Entwicklungen vertragen, etwa dem Wachstum von Städten oder dem immer drängender werdenden Bedarf an leistbarem Wohnraum. Im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Ausbau Erneuerbaren Energien legt der Vorschlag eine eigene Bestimmung fest. So sollen die Mitgliedstaaten die Wiederherstellungspläne mit Plänen zur Ausweisung von „go to“-Gebieten für Erneuerbare Energien koordinieren.
Erneuerbare und Biodiversität – ein Widerspruch?
Im Lichte der Klimakrise hat der Ausbau Erneuerbarer Energien schon in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den darauffolgenden Entwicklungen am Energiemarkt wurde nun aber endgültig klar, dass die Abhängigkeit von fossilen Energien keine Zukunft hat. Nach einer vorläufigen Einigung im Trilog – den Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament – wird im Rahmen der EU nun das Ziel angestrebt, den Gesamtenergieverbrauch bis 2030 zu 42,5 Prozent aus Erneuerbaren Energiequellen zu decken. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden auf Unionsebene verschiedenste Maßnahmen gesetzt, mit denen unter anderem die Genehmigungsverfahren für Projekte im Bereich Erneuerbarer Energien beschleunigt werden sollen. So enthält etwa die EU-Notfallverordnung klare Vorgaben zur Höchstdauer von Verfahren sowie die widerlegbare Vermutung, dass Projekte der Energiewende von überwiegendem öffentlichem Interesse sind. Dies führt dazu, dass etwa in Abwägungsentscheidungen zwischen Naturschutzinteressen und den Interessen am Ausbau Erneuerbarer Energien letzteren der Vorrang einzuräumen ist. Ähnliche Vorgaben finden sich in Plänen der Kommission zu einem Netto-Null-Industrie-Gesetz, mit dem die Bedingungen für die Produktion jener Technologien vereinfacht werden sollen, die für die Energiewende notwendig sind. Dass solche Vorgaben in einem Spannungsfeld zum Schutz der Biodiversität und zur geplanten „Wiederherstellung der Natur“ stehen, liegt auf der Hand.
Dieser vermeintliche Zielkonflikt zeichnet sich bereits seit einigen Jahren ab und war schon vor den aktuellen Initiativen der EU häufig Thema in Genehmigungsverfahren. Ein aktuelles Beispiel dafür sind etwa die Diskussionen um das Kraftwerk Kaunertal in Tirol. Auch hier stehen sich der Naturschutz und der Ausbau Erneuerbarer Energien gegenüber.
Immer wieder fallen Abwägungen in naturschutzrechtlichen Verfahren zu Projekten der Energiewende zugunsten des Klimaschutzes aus. Umgekehrt spielt der Klimaschutz in Genehmigungsverfahren bislang eine sehr untergeordnete Rolle, wenn es darum geht, einem Projekt die Bewilligung zu versagen. Entsprechende Vorschriften in den einschlägigen Gesetzen fehlen. Lediglich das Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz sieht die Berücksichtigung der Auswirkungen eines Projekts auf das Klima vor. Insgesamt zeigt sich daher, dass Klimaschutz in Form von Projekten für die Energiewende schon bislang der Vorrang eingeräumt wurde. Durch die neuen Vorschriften auf Unionsebene wird dies noch verstärkt.
Dabei lässt sich das Gegeneinander-Ausspielen von Natur- und Klimaschutz aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht begründen. Allzu oft wird übersehen, dass es sich hier nur um einen vermeintlichen Zielkonflikt handelt. Die Bewältigung der Klimakrise kann nur mit funktionierenden Ökosystemen gelingen. Denn ohne Treibhausgassenken ist Klimaneutralität nicht denkbar. Umgekehrt stellen die Folgen der Klimakrise eine nie dagewesene Bedrohung für die Biodiversität dar. Klima- und Naturschutz müssen daher Hand in Hand gehen.
Wie weiter?
Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden „Zwillingskrise“ und dem gerade aufgezeigten Spannungsverhältnis stellt sich die Frage nach möglichen Lösungswegen. Was muss geschehen, um sämtlichen ökologischen Erfordernissen gerecht zu werden? Eines muss dabei vorangestellt werden: Nachhaltig können nur jene Lösungen sein, die neben den ökologischen auch die sozialen Aspekte jeder Maßnahme berücksichtigen. Denn die ökologische Wende kann nur mit den Vielen gelingen.
Zunächst gilt es, Widersprüche in verschiedenen Rechtsakten zu vermeiden. Der Ausbau Erneuerbarer Energien darf nicht auf Kosten der Biodiversität stattfinden. Zwar enthält etwa der Vorschlag zur Wiederherstellung der Natur eine Bestimmung, die Kohärenz gewährleisten soll. Insgesamt kann eine solche allerdings nicht beobachtet werden. Der Ausbau Erneuerbarer Energien soll in Genehmigungsverfahren gegenüber dem Naturschutz von überwiegendem Interesse sein, gleichzeitig sollen umfangreiche Wiederherstellungsmaßnahmen ergriffen und Ökosysteme ausgeweitet werden. Das passt nicht zusammen.
Für eine kohärente Strategie sind zwei Dinge unerlässlich: umfangreiche Grundlagenarbeit zur Erhebung des aktuellen Zustands sowie eine darauf aufbauende übergeordnete Planung. Beides muss auf Ebene der Mitgliedstaaten geschehen.
Grundlagenarbeit ist aufwendig und teuer. Sie braucht ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen, die in Österreich bislang vielfach fehlen. So sind etwa zahlreiche Daten zum Zustand von Arten nur deshalb verfügbar, weil sie durch Freiwillige oder NGOs gesammelt wurden. Es ist daher von höchster Priorität, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen ein klares Bild des aktuellen Zustands der österreichischen Ökosysteme gezeichnet werden kann.
Um eine übergeordnete Planung zu ermöglichen, bedarf es darüber hinaus eines Bundesgesetzes zu Biodiversität sowie verbindliche Vorgaben des Bundes zur strategischen Planung von Großprojekten im Bereich der Erneuerbaren Energien. Auf Grundlage der naturwissenschaftlichen Daten müssen jene Standorte festgelegt werden, die besonders schützenswert sind, sowie jene, die für den Ausbau Erneuerbarer Energien am besten geeignet sind. Im Rahmen der jetzigen Rechtslage mit neun verschiedenen Landes-Naturschutzgesetzen und keinerlei verbindlicher Vorgaben zu Standorten für den Erneuerbaren-Ausbau werden sich die auf den ersten Blick widersprechenden Ziele nicht sinnvoll miteinander verknüpfen lassen. Genau dies ist aber notwendig, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten