Betrieb

Die Nachtzugbauer aus Simmering

Die Bahnindustrie ist in Österreich beinahe so alt wie das Eisenbahnwesen selbst. So wurde in Wien Leopoldstadt 1846 der erste Güterwaggon gebaut. Sechs Jahre später übersiedelte die Produktion an den derzeitigen Standort nach Simmering. Fast zeitgleich entstand in Graz die „k.k. privilegierte Wagenfabrik Johann Weitzer“. Das sind die Ursprünge von Simmering-Graz-Pauker (SGP). Das Unternehmen entstand im Kriegsjahr 1941 unter der Leitung der Reichswerke „Hermann Göring“ durch die Fusion der Simmeringer und Grazer Waggonbau-AG mit den Paukerwerken und wurde Teil der Kriegsmaschinerie der Nationalsozialisten. So befand sich in der Geiselbergstraße 29 von 1943 bis 1944 das „Lager Waggonfabrik“, wo Zwangsarbeiter des Simmeringer Werkes festgehalten wurden. Durch Bombardements kam es gegen Kriegsende zu großen Schäden an den Betriebsstandorten.

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Von den Anfängen zu Simmering-Graz-Pauker 

Am 26. Juli 1946 wurde im österreichischen Nationalrat einstimmig von SPÖ, ÖVP und KPÖ die Verstaatlichung von drei Großbanken, sowie der Grundstoff- und Maschinenbauindustrie beschlossen. Dazu gehörte auch Simmering-Graz-Pauker. Zwei Gründe waren für diese weitgehenden Verstaatlichungen ausschlaggebend:

  • Die Nachkriegszeit war durch einen Mangel an Privatkapital gekennzeichnet. Daher entschied man pragmatisch, den in der Nazizeit begonnenen Ausbau der Industrie mit staatlichen Geldern fortzusetzen bzw. die kriegsbedingten Zerstörungen an Fabriken zu beseitigen.
  • Es herrschte gesellschaftspolitischer Konsens, dass die Schlüsselindustrien nicht privaten Gewinninteressen überlassen werden sollten. So bezeichnete der SPÖ-Abgeordnete Anton Proksch als Berichterstatter das Gesetz als „ein erster Schritt, ja nur ein Anfang zu einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsform“. Nie wieder sollten die Firmen „Profitinteressen einzelner Unternehmer oder gar gänzlich unbeteiligter Aktionäre dienen“, so Proksch. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg baute SGP ein weit verzweigtes internationales Netz von Filialen mit mehreren tausend Mitarbeiter:innen auf. 1958 wurde die traditionsreiche Lokomotivfabrik Floridsdorf übernommen. Die Firma entwickelte sich zum führenden Maschinenbauunternehmen in Österreich. Der Großteil des Rollmaterials (Lokomotiven, Schnellbahnzüge und Reisewaggons) der ÖBB wurde in dieser Zeit von SGP gebaut. Aber auch die Wiener U-Bahngarnituren und die meisten Straßenbahnen stammen aus deren Produktion. Die letzte Entwicklung von Simmering-Graz-Pauker war die „ULF“-Straßenbahn für Wien. Hierzulande sind noch viele Fahrzeuge unterwegs, auf denen das SGP-Logo zu finden ist. 

Siemens Mobility

Im Zuge der neoliberalen Privatisierungen wurde der Bahnbereich von Simmering-Graz-Pauker Anfang der 1990er-Jahre in Raten an Siemens verkauft. Nach mehreren Umbenennungen firmiert das Unternehmen nun als Siemens Mobility. Das Werk in Graz wurde zum Kompetenzzentrum für Fahrwerke und Stromabnehmer ausgebaut. Rund 1.100 Mitarbeiter:innen produzieren hier die Drehgestelle für alle Siemens-Schienenfahrzeuge. In der jüngeren Vergangenheit wechselten übrigens einige Beschäftigte der Kfz-Unternehmen AVL List und Magna zu Siemens. Die Mobilitätswende vollzieht sich – jedenfalls in Einzelfällen – also auch schon am Arbeitsmarkt.

Der Standort in Simmering trägt die weltweite Verantwortung für das Geschäft des Siemens-Konzerns für Metros, Straßenbahnen, Reisezugwagen und vollautomatische People Mover. Rund 1.300 Beschäftigte bauen aktuell Garnituren für die Wiener, Londoner und Nürnberger U-Bahn und die ÖBB-Nachtzüge; insgesamt rund 450 Fahrzeuge pro Jahr. Außerdem werden an beiden Standorten Schienenfahrzeuge entwickelt, die in anderen Werken produziert werden. So wurden die bisherigen Railjets in Siemenswerken vorgefertigt und dann in der ÖBB-Werkstätte in Simmering zusammengebaut. Ähnliches bei den Schnellbahngarnituren Desiro ML: Erst im Jänner 2022 lieferte das ÖBB-Werk Jedlersdorf den 200. Siemens-Cityjet aus. 

Siemens Mobility erwirtschaftet in Österreich einen jährlichen Umsatz von rund einer Milliarde Euro, die Zahl der Beschäftigten steigt kontinuierlich an. Das Management strebt unter den 405 Lehrlingen einen Frauenanteil von 20 Prozent an. Zentralbetriebsrats-Vorsitzender Roland Feistritzer bezeichnet deren Ausbildung als vorbildlich. Trotzdem sei es schwierig, Fachleute zu finden. Das größte Problem sieht er jedoch in der scharfen Konkurrenz. Chinesische Bahnproduzenten drängen mit Billigangeboten auf den europäischen Markt. Aber auch durch den Zusammenschluss von Bombardier und Alstom ist ein mächtiger Mitbewerber entstanden. „Es herrscht großer Preis- und Termindruck und das schlägt voll auf die Beschäftigten durch. Denn ein Großauftrag läuft wie eine Welle durch alle Abteilungen des Werkes; von der Angebotserstellung bis zu Produktion“, so der Betriebsrat. Arbeit sei jedenfalls genug da. Die Auslastung verlaufe immer langfristig und oft antizyklisch. Er erwähnt nicht ohne Stolz, dass die Lieferketten nie abgerissen sind. Das Werk sei ohne Kurzarbeit durch die Pandemie gekommen. Das Management geht von einem mittel- und langfristig positiven Marktumfeld aus. Globale Megatrends –  wie Bevölkerungszunahme, Wachstum der Städte, sowie die Dekarbonisierung – seinen mit dem herkömmlichen Pkw-Verkehr nicht zu bewältigen. Dagegen biete der umweltfreundliche Schienenverkehr nachhaltige Lösungen in allen Bereichen an: von Straßenbahn, U-Bahn, Intercity- bis hin zu Hochgeschwindigkeitszügen. Dem stimmt Betriebsrat  Roland Feistritzer zu: „In Summe ist die Mobilitätswende eine Riesenchance“.