Schwerpunkt
Neue Bahnen
Mobilitätswende aufgleisen – Arbeitnehmer:innen am Zug
Die Liberalisierungsschritte im Schienenpersonenverkehr wurden in den aktuellen und ehemaligen EU-Mitgliedsstaaten unterschiedlich umgesetzt. Der vergleichsweise stark liberalisierte Schienenpersonenverkehr in Deutschland und Großbritannien im Gegensatz zu Österreich und der Schweiz zeigt deutlich die Auswirkungen des Wettbewerbs auf der Schiene: Während in Deutschland die Privatisierung der Bahnbranche zu einer Fahrplanfragmentierung, höheren Ticketpreisen, staatlichen Mehrkosten durch Insolvenzen von privaten Eisenbahnverkehrsunternehmen und fehlenden Investitionen in die Schieneninfrastruktur geführt hat (siehe Schwerpunkt-Artikel "Die verfehlten Verheißungen des Wettbewerbs"), fahren die schweizer und österreichischen Bahnen Fahrgastrekorde ein. Ein Bericht im kürzlich erschienenen Magazin „mopinio“ von mobifair Deutschland (Ausgabe 02/2024) belegt, dass der Wettbewerb auf der Schiene zu einem leistungsschwachen Bahnsystem geführt hat. Mittlerweile bewerben sich im Durchschnitt nur noch 1,4 Eisenbahnverkehrsunternehmen bei Ausschreibungsverfahren, aufgrund der kostenintensiven Erfordernisse und geringen Profitmöglichkeiten in der Eisenbahnbranche. Dieser Weg sollte dringend korrigiert werden, denn in der Bahn steckt mehr.
Bedeutung der Bahnen in Österreich
Aktuell sind über 50.000 Menschen in den österreichischen Eisenbahnunternehmen beschäftigt und arbeiten im unregelmäßigen Schichtdienst, damit Menschen und Güter möglichst rasch, leistbar und klimaschonend an ihr Ziel kommen. Zusätzlich ist die technologische Innovationsfähigkeit, Wertschöpfung und Beschäftigung der heimischen und europäischen Bahnindustrie ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Ein Mehr-an-Bahn ist daher ein Teil der Lösung, um leistbare Mobilität für die Gesellschaft sicherzustellen, systemrelevante Arbeitsplätze auszubauen und die deutlich gestiegenen Emissionen im Verkehrsbereich drastisch zu senken.
Der kürzlich veröffentlichte Bericht der Schienen-Control GmbH für das Jahr 2023 weist für den Schienenpersonenverkehr ein Rekordjahr aus: 14,5 Milliarden Schienenkilometer wurden von 328 Millionen Fahrgästen 2023 zurückgelegt. Das ist ein Anstieg von zwölf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dieser erfreulichen Entwicklung in Österreich steht allerdings ein Einbruch im Schienengüterverkehr um 5,2 Nettotonnenkilometer (das Gewicht des transportierten Frachtgutes mit der zurückgelegten Wegstrecke multipliziert) gegenüber. Österreichs Bahnen sind im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedsstaaten grundsätzlich ein stabiles Transportmittel, das sich insbesondere in Krisenzeiten (wie während der CoV-Pandemie oder der Flüchtlingskrise 2015) als verlässlicher Mobilitätspartner erwiesen hat. Die Bahn ist jetzt gefragt, doch welche Hemmschuhe stehen ihrem Aufwind entgegen?
Fit durch Profit?
Die Eisenbahnbranche wurde seit den 1990er- Jahren durch die liberal dominierte Politik des Europaparlaments im Rahmen von vier Eisenbahnpaketen stufenweise immer stärkeren Wettbewerbsbedingungen unterworfen. Die vier Eisenbahnpakete zielen im Wesentlichen auf eine Ökonomisierung der Bahnen durch intermodalen Wettbewerbsdruck ab, also auf Konkurrenz zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern (Schiene, Straße, Luft und Schiff). Durch die Trennung von Infrastrukturbetreibern und den Eisenbahnverkehrsunternehmen, der Einrichtung der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) sowie von Bahn-Regulatorstellen in den EU-Mitgliedstaaten (wie der Schienen-Control in Österreich) wurden für die Mitgliedstaaten verbindliche Maßnahmen gesetzt, um den Schienenmarkt zu liberalisieren und einen „fairen Wettbewerb“ in der Eisenbahnbranche voranzutreiben. Das bisher letzte, vierte, Eisenbahnpaket zielt unter anderem auf die Liberalisierung der Vergabe von Schienenpersonenverkehren ab. Damit wird der Ausschreibungswettbewerb seitens der Europäischen Kommission forciert, obwohl in dem vom Europaparlament beschlossenen Verordnungstext der „Public Service Obligation 2016/2338“ die Wahlfreiheit der Mitgliedsstaaten festgeschrieben ist. Die direkte Bestellung von Verkehrsleistungen durch den Staat ist jedoch ein wichtiges Element für die Zuverlässigkeit gemeinwirtschaftlicher Schienenpersonenverkehre und kann nur durch stabile Auftragsvergabe an erfahrene und gut ausgebildete Arbeitskräfte gelingen.
Die Auswirkungen der Bahnliberalisierung sind europaweit ähnlich gelagert: Kostenintensiver Ausschreibungswettbewerb, gekennzeichnet durch fehlende Investitionen in die Instandhaltung von Schieneninfrastruktur und Rollmaterial, Abbau von Arbeitsplätzen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Reduktion der Netzabdeckung, teure Ticketpreise und häufige Insolvenzen privater Bahnunternehmen verursachen einen enormen Schaden für die Gesellschaft. Die Rechnung der Doktrin „Fit durch Profit“ mussten allen voran die Bahnbeschäftigten, die Fahrgäste und letztendlich die Steuerzahler:innen teuer bezahlen.
Angespanntes Klima am Zug
Die Auswirkungen der Bahnliberalisierung haben Bahnbeschäftigte stark zu spüren bekommen. Der Profitdruck, dem Eisenbahnverkehrsunternehmen unterworfen wurden, resultierte in Arbeitsplatzreduktion und damit einer Arbeitsverdichtung: Während Anfang der 1990er Jahre über 70.000 Menschen in Bahnunternehmen beschäftigt waren, sind es heute 20.000 Menschen weniger, und dies bei einer gleichzeitigen Verdoppelung der Schienenpersonenkilometer. So fehlt, trotz deutlich gestiegener Fahrgastzahlen, eine verpflichtende Anhebung des Personals am Zug.
Die Arbeitsverdichtung geht allerdings zunehmend zu Lasten der Sicherheit am Zug: So ist es nicht verpflichtend, dass jeder Zug vom Zugbegleitdienst betreut wird. Die Aufgaben werden an Triebfahrzeugführer:innen übertragen, wodurch eine Betreuung der Fahrgäste im Zug nicht möglich ist. Insbesondere in Notfallsituationen ist es für die Triebfahrzeugführer:innen äußerst belastend, alle erforderlichen Sicherheitstätigkeiten bewältigen zu müssen, insbesondere wenn diese beispielsweise aufgrund eines Schienensuizids im Schockzustand sind.
Während die Arbeitsplatzgarantien und damit die Stabilität im Falle einer Berufsunfähigkeit 1994 durch Beendigung der Pragmatisierung in Österreich gestrichen wurden, hat man die Arbeitszeit verlängert und flexibilisiert und damit eine weitere Liberalisierung zu Gunsten der Arbeitgeber vollzogen. Die Anzahl an Arbeitskräfteüberlassungsfirmen für eisenbahnspezifische Berufe hat drastisch zugenommen. Bereiche wie die Nachtzugbetreuung wurden ausgelagert und werden per Ausschreibungswettbewerb an externe Betreiber vergeben, die über keine eisenbahnspezifischen Erfahrungen verfügen müssen. Nachtzugbegleiter:innen sind jedoch für sicherheitsrelevante Aufgaben am Zug zuständig. Der Brand im Terfener Tunnel im Juni 2023 hat die Wichtigkeit von geschultem Personal am Zug eindrücklich verdeutlicht: Nur dank der langjährigen Expertise und kürzlich absolvierten Sicherheitsschulung der Zugbegleiter:innen, konnte eine Massenpanik im Zug verhindert werden und 151 Fahrgäste sicher aus dem Tunnel evakuiert werden.
Die höchste Fluktuation unter den eisenbahnspezifischen Berufsgruppen verzeichnen die Arbeitnehmer:innen im Zugbegleitdienst. Dazu tragen maßgeblich die stetig steigenden Übergriffszahlen bei. Die gemeldeten Vorfälle von körperlichen Übergriffen und verbalen Attacken gegen Arbeitnehmer:innen am Zug (Zugbegleiter:innen, Service- und Kontrollteam, Nachtzugbegleiter:innen) steigen seit Jahren. Die Dunkelziffer ist weitaus höher, weil Übergriffe nicht unbedingt mit Konsequenzen verbunden sind und daher die Betroffenen eine Meldung als unsinnig erachten. Basierend auf Interviews mit Mitarbeiter:innen aus dem Zugbegleitdienst steigen die Übergriffszahlen insbesondere in Ballungsräumen und nach Großveranstaltungen. Um die Arbeitnehmer:innen am Zug und Fahrgäste vor Übergriffen zu schützen, müssten in diesen Zugverbindungen verpflichtend mindestens zwei Zugbegleiter:innen eingesetzt werden. Zusätzlich muss eine rechtliche Grundlage geschaffen werden, um Personen, denen Belästigung und Übergriffe im Zug nachgewiesen werden, bis zu sechs Monate von einer Beförderung mit der Bahn auszuschließen.
Das Outsourcing von eisenbahnspezifischen Aufgaben an externe Betreiber sowie die Umstrukturierung der Trennung des integrierten Systems Eisenbahn in gewinnorientierte Teilkonzerne haben die Organisierung der Arbeitnehmer:innen erschwert und sie zunehmend in Konkurrenz zueinander gesetzt. Die Zahl der gewerkschaftlich kaum oder gar nicht organisierten Eisenbahnverkehrsunternehmen nimmt zu. In Eisenbahnverkehrsunternehmen, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, werden kollektivvertragliche Regelungen häufiger missachtet, insbesondere die maximal zulässige Arbeitszeit. Der überwiegende Teil der Eisenbahnbeschäftigten arbeitet im unregelmäßigen Schichtdienst und ist dadurch gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt, die sich in einer kürzeren Lebenserwartung niederschlagen. Die Liberalisierung der Eisenbahn und die daraus resultierenden Veränderungen der Arbeitsbedingungen haben ein lebenslanges Arbeiten bei gutem Gesundheitszustand verunmöglicht.
Gute Arbeitsbedingungen auf Schiene bringen
Für ein gut funktionierendes Bahnsystem in Europa ist es wichtig, technologische Innovationen im europäischen Eisenbahnraum zu implementieren, allerdings wird dadurch nicht die Notwendigkeit für grenzüberschreitend gute Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitkontrollen, sowie europaweit hohe Ausbildungsstandards ersetzt. Insbesondere im grenzüberschreitenden Verkehr muss das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gelten, um das fortlaufende „race to the bottom“ in der Eisenbahnbranche zu unterbinden.
Die Bestrebungen der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) zielen auf eine Absenkung der Ausbildungsstandards sowie auf eine Senkung des Sprachniveaus im grenzüberschreitenden Verkehr ab. In Österreich ist das erforderliche Sprachniveau mit dem Level B1 festgelegt, der im europäischen Vergleich einen Mindeststandard darstellt. Die Einführung einer einheitlichen Sprache trägt wenig zur Beschleunigung von grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehren bei, sondern erhöht die Anzahl von Arbeitszeitüberschreitungen und das Unfallrisiko.
Um den zunehmenden Arbeitszeitüberschreitungen entgegenzuwirken, ist ein europaweit standardisiertes, digitales Erfassungssystem der Arbeits-, Lenk- und Ruhezeiten von Eisenbahnpersonal zu deren Schutz unerlässlich. Aktuell gibt es kaum Kontrollmöglichkeiten, da die Zeiterfassungssysteme innerhalb der Eisenbahnverkehrsunternehmen nicht manipulationssicher sind und das zuständige Verkehrsarbeitsinspektorat bisher nur innerhalb der nationalen Grenzen kontrollieren und sanktionieren kann. Um einen einheitlichen europäischen Eisenbahnraum ohne Lohn- und Sozialdumping zu verwirklichen, ist es notwendig, Arbeitnehmer:innen vor massiven Arbeitszeitüberschreitungen zu schützen und grenzüberschreitende Kontrollmöglichkeiten für die zuständigen Arbeitsinspektorate verpflichtend einzuführen. Gleichzeitig ist es notwendig, die personelle Ausstattung der Verkehrsarbeitsinspektorate zu erhöhen, damit diese ihren Aufgaben bei stetig steigender Anzahl an registrierten Eisenbahnverkehrsunternehmen überhaupt nachkommen können.
Aktuell liegt die Frauenbeschäftigungsquote europaweit in der Bahnbranche bei durchschnittlich 21 Prozent. 2021 verabschiedeten die Sozialpartner auf europäischer Ebene verpflichtende Ziele und Maßnahmen, wie die Entwicklung von Arbeitszeitmodellen für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Gewaltprävention und Eliminierung geschlechterspezifischer Einkommensunterschiede, die bis 2026 umzusetzen sind. Mit der Überwindung struktureller Diskriminierung von Frauen haben die Bahnen die Chance, sich als personell stabile und zukunftsfähige Branche zu etablieren. Mit europaweiten hohen Ausbildungsstandards sowie einer Aus- und Weiterbildungsoffensive für eisenbahnspezifische Berufe, planbarer Freizeit, ausreichend verfügbaren Sanitär- und Ruheräumen, Schutz vor Gewalt und Diskriminierung und einem Arbeitsklima, das für alle Geschlechter attraktiv ist, wäre die Bahn frei für eine erfolgreiche Mobilitätswende hin zur Schiene.