Betrieb

Mit Organizing aus der Krise

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Zwischen den 1980er-Jahren und heute ist der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer:innen in Österreich um circa 30 Prozent gesunken. Diese Entwicklung stellt mit wenigen Ausnahmen ein weltweites Phänomen dar. Die Gründe für den Machtverlust der Gewerkschaften sind vielfältig und von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Für viele europäische Staaten lassen sich jedoch zwei entscheidende Entwicklungen festhalten: Der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft und die neoliberale Wende. Zum einen hat sich seit den 1970er-Jahren der Anteil der Arbeitnehmer:innen im Dienstleistungssektor verdoppelt. Heute arbeiten mehr als 70 Prozent der Beschäftigten in Österreich im tertiären Sektor und nur mehr ein Viertel im produzierenden Bereich. Diese Entwicklung ging mit einer massiven Zunahme atypischer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse einher. Gerade diese Branchen sind aber wesentlich schwieriger zu organisieren als die großen Industriebetriebe, die nach wie vor gewerkschaftliche Hochburgen darstellen. Zum anderen hat die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte in Verbindung mit der Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes zu einer Schwächung der gewerkschaftlichen Verhandlungspositionen geführt. Insbesondere international agierende Konzerne können die Liberalisierung häufig zu ihrem eigenen Vorteil nutzen, um nationale Standards und gewerkschaftliche Strategien zu unterlaufen. 

Erfolgreiche Erneuerung

Beide Entwicklungen stellen das traditionelle gewerkschaftliche Organisationsmodell in Frage, in dem Gewerkschaft und Betriebsrat vor allem als Stellvertreter und Dienstleister der Beschäftigten agieren. In vielen Branchen wurde auf diese Entwicklung bereits reagiert und ein gewerkschaftlicher Erneuerungsprozess eingeleitet. Das Stichwort dabei heißt Organizing. Das Konzept stammt ursprünglich aus der US-amerikanischen Arbeiter:innenbewegung und zielt auf die Ermächtigung der gewerkschaftlichen Basis. Mit einer stärkeren Einbindung der Beschäftigten und innovativen Beteiligungsformaten konnten auch in Österreich bereits Erfolge erzielt werden. Nicht zuletzt deshalb zeichnet sich in den letzten Jahren eine beeindruckende Trendwende ab. Mit fast 100.000 Beitritten kann der ÖGB 2023 den höchsten Mitgliederzuwachs seit 40 Jahren vorweisen. Mit einem Anteil von 37,5 Prozent sind zudem so viele Frauen wie nie zuvor gewerkschaftlich organisiert. Wie Organizing konkret aussehen kann, soll anhand von zwei Branchen beispielhaft dargestellt werden.

Arbeitskämpfe im Spital

Der Gesundheitssektor gehört zu den Bereichen, in denen die gewerkschaftliche Organisierung besonders schwierig ist. Viele Beschäftigungsbereiche innerhalb des Gesundheitssystems stehen unter massivem Druck: Überstunden, Unterbesetzung und Schichtarbeit prägen vielerorts den Arbeitsalltag. Besonders prekär ist die Situation in den privaten Spitälern. Lange Zeit war die gewerkschaftliche Gegenmacht in diesen Einrichtungen schwach und es konnten keine Verbesserungen erreicht werden. Weil eine organisierte Basis nicht vorhanden war, musste die Gewerkschaft vida ihre begrenzten Ressourcen auf andere Bereiche fokussieren. Vor vier Jahren startete man dann einen Organizing-Prozess in der Branche – mit Erfolg. Durch viele Einzelgespräche mit den Beschäftigten konnte die Gewerkschaft Vertrauen gewinnen. Mittels einer groß angelegten Befragung konnten die Mitarbeiter:innen außerdem selbst die Schwerpunkte für die KV-Verhandlungen setzen. Beide Maßnahmen führten letztlich zu einem deutlich höheren Organisationsgrad in den Belegschaften, denen die Arbeitgeber lange Zeit keine Kampfmaßnahmen zutrauten. 

2023 kam es dann zu flächendeckenden Warnstreiks, die den Druck erhöhten und zu einer deutlichen Verbesserung des Kollektivvertrags führten. „Von der Forderungsentwicklung über aktiv gestaltete Betriebsversammlungen bis hin zur Abstimmung des Verhandlungsergebnisses haben sich die Kolleg:innen vor Ort mit eingebracht. Deshalb konnten wir einen sehr guten Abschluss erzielen“, erklärt Christoph Leitner-Kastenhuber, vida-Landessekretär in Oberösterreich. Der neue Weg im Gesundheitsbereich bedeutet Mitbestimmung und Beteiligung, transparente Verhandlungsführung und Abstimmung der Ergebnisse an der Basis. Das funktioniert aber nur, wenn genügend Beschäftigte mitmachen und gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Harald Steer, Betriebsratsvorsitzender beim Gesundheitsunternehmen Vamed und Verhandlungsleiter für die vida macht deutlich: „Es muss allen Kolleg:innen klar sein, dass wir nur so viel erreichen können, wie sie bereit sind sich einzubringen und mitzugehen“.

Sozial-ökologisches Organizing in der Busbranche

Im Straßenbereich findet sich ein weiterer Sektor mit prekären Arbeitsbedingungen. Ob Fahrradbot:innen oder Lenker:innen von LKW und Bussen: Die Arbeitsplätze der Beschäftigten sind häufig weit zerstreut und es gibt nur wenige zentrale Anlaufstellen, an denen sich die Mitarbeiter:innen regelmäßig begegnen. Anders als in großen Produktionsstandorten ist es deshalb eine Herausforderung für die Gewerkschaft, die Belegschaften zu erreichen. Mit dem Bündnis Wir Fahren Gemeinsam aus vida, AK, „Fridays for Future“ und „System Change, not Climate Change!“ konnte den Schwierigkeiten in der Busbranche durch Ansätze von Organizing bereits erfolgreich begegnet werden. Unterstützt durch die Gewerkschaft besuchten Klimaaktivist:innen Anfang des Jahres sehr viele Buslenker:innen bei der Arbeit und bauten durch Einzelgespräche Vertrauen bei den Beschäftigten auf. Im Ergebnis konnten zahlreiche Lenker:innen mobilisiert und zur Mitarbeit im Bündnis motiviert werden. Seitdem finden regelmäßige Austausch­treffen statt, bei denen unter anderem gemeinsame öffentliche Aktionen organisiert werden. 

Der öffentliche Druck brachte bereits einen ersten Verhandlungserfolg: Jahrelang von der Arbeitgeberseite blockierte Forderungen wie die Anrechnung von Vordienstzeiten oder die Pauschalierung von Sonntagszuschlägen konnten endlich durchgesetzt werden. Durch den Schulterschluss von Gewerkschaft und Klimabewegung wurde das klassische Organizing zudem um eine ökologische Komponente erweitert. Das Hauptargument dabei: Nur mit guten Arbeitsbedingungen im Verkehrsbereich lässt sich die dringend erforderliche Mobilitätswende umsetzen. 

Längst haben die Gewerkschaften erkannt, dass es in vielen Branchen neuer Wege bedarf, um die Beschäftigten zu organisieren. Klar ist aber auch, dass die flächendeckende Integration von Organizing nur in einem langfristig angelegten Prozess gelingen kann. Die Arbeit an der Basis erfordert mitunter viel Zeit und Geduld, zahlt sich aber letztlich aus.