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Neue Bahnen

Die verfehlten Verheißungen des Wettbewerbs

Statt aus den Verwerfungen auf dem größten europäischen Schienenverkehrsmarkt zu lernen, werden die Prinzipien der Gewinn- und Wettbewerbsorientierung weder auf europäischer noch auf nationaler Ebene angetastet. Im Gegenteil: Die Forderung nach mehr Wettbewerb verhallt nicht, könne dieser doch dazu führen, dass die DB AG die Pünktlichkeit ihrer Züge verbessert, ihr Tarifsystem entwirrt, den Stand der Technik bei der Ausstattung ihres rollenden Materials beherzigt und den gastronomischen Service auf ein akzeptables Niveau bringt. Neben dem Beauftragten der Bundesregierung für Schienenverkehr Michael Theurer (FDP), ließen sich zuletzt auch das Bundeskartellamt und die Monopolkommission mit ähnlichen Forderungen zitieren.

Verkehrsplanung statt Verkehrsmarkt

Diese Forderungen nach mehr Wettbewerb ignorieren jedoch nicht nur die Besonderheiten des Eisenbahnverkehrs, sondern auch die Tatsache, dass der Wettbewerbsmechanismus im Zusammenhang mit einer „marktgerechten“ Verkehrsbedienung gravierende volkswirtschaftliche Fehlentwicklungen hervorruft. Wie nicht zuletzt der Begriff „Verkehrsplanung“ verdeutlicht, stellt die Verkehrswirtschaft aufgrund ihrer zahlreichen Eigengesetzlichkeiten einen wettbewerblichen Ausnahmebereich dar. Staatliche Eingriffe im Sinne gesellschaftlicher Zielvorgaben – beispielsweise eine Drosselung des motorisierten Individualverkehrs zu Gunsten des Klimaschutzes oder die infrastrukturelle Anbindung ländlicher Regionen – gelten als zentrale verkehrspolitische Hebel. Im blinden Glauben an die belebende Kraft des Wettbewerbs wird übersehen, dass Wettbewerber die gleiche marode Schieneninfrastruktur nutzen müssen.

Mehr Wettbewerb führt keineswegs zu einer besseren Zugtaktung, erschwinglicheren Preisen und einer flächendeckenden Versorgung mit Schienenverkehrsleistungen. Sollen im Wettbewerb agierende Eisenbahnverkehrsunternehmen aus verkehrsplanerischen Erwägungen zum Betrieb unrentabler Streckenabschnitte verleitet werden, lässt sich dies seitens der Aufgabenträger häufig nur dadurch bewerkstelligen, dass den Unternehmen besonders lukrative Strecken bzw. Streckenmonopole zugebilligt werden. Letzteres war und ist in Großbritannien gang und gäbe, wo die rigide Privatisierungs- und Wettbewerbspolitik der 1990er-Jahre krachend gescheitert ist. Unverändert erhalten die erfolgreichen Bieter im Rahmen des Vergabeverfahrens „Streckenmonopole auf Zeit“. Dass dieses System zu den höchsten Ticketpreisen Europas geführt hat, spricht eindeutig gegen eine (radikale) Liberalisierung des Bahnwesens. Schließlich können mehrere Schienenverkehrsunternehmen ihr Produkt in Gestalt von Bahnfahrten nicht gleichzeitig auf demselben Schienenstrang anbieten. 

Ruinöser Wettbewerb

Eine weitere Gefahr liegt in einem ruinösen Wettbewerb. In Zeiten von Fachkräftemangel, Mindestlohn und erfolgreichen Gewerkschaften können die Wettbewerbsbahnen ihre Praxis des Lohndumpings glücklicherweise nicht mehr länger im selben Maße aufrechterhalten. Vielen Bahnunternehmen sind dadurch die Gewinne weggebrochen. Und auch in anderen Bereichen waren Sparmaßnahmen der Konkurrenzunternehmen der ausschlaggebende Faktor, um die Ausschreibungen der Länder für sich zu entscheiden. Damit waren allerdings nicht selten erhebliche Probleme verbunden, die an die grassierenden Defizite der DB erinnern, beispielsweise verspätete, ausfallende oder schlicht unkomfortable Züge. Die Länder als Aufgabenträger des Schienenpersonennahverkehrs (SPNV) reagierten auf diese Missstände mit strikteren Vorgaben, wodurch die Spielräume der Wettbewerbsbahnen merklich eingeschränkt wurden. 

Nicht nur deshalb stellt sich die Frage, wie sinnhaft die für die Durchsetzung von Wettbewerb notwendigen Ausschreibungsprozeduren mit ihren detailliert ausgestalteten Vorgaben sind. Selbst Ökonom:innen stellen mittlerweile eine Direktvergabe an öffentliche Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) zur Diskussion, gehen diese doch u. a. mit „relevanten Kostenreduktionen bei der Fahrzeugbereitstellung“ einher, so das Ergebnis einer Studie der Universität Weimar 2020 (Becker et al.). Was in der Wettbewerbseuphorie untergeht, ist der Umstand, dass die kompetetive Vergabe im Schienenverkehrssektor nicht ohne Verwaltung, Koordination und Kontrolle auskommt. International ist aus Gesprächen mit schwedischen Vergabestellen bekannt, dass dort 4,9 Prozent der anfallenden Kosten auf die Beauftragung entfallen. Dirk Schlömer, Geschäftsführer von mobifair e. V. – einer gemeinnützigen Organisation zum Schutz von Beschäftigten- und Verbraucherrechten in der Mobilitätsbranche – schätzt den Anteil in Deutschland auf bis zu 
ca. 3 Prozent. 

Vorzüge der Direktvergabe vs. Abellio-Pleite

Österreich hingegen verzichtet darauf, es Staaten wie Schweden und Deutschland gleichzutun und setzt weiterhin auf Direktvergaben. Nicht zu Unrecht verweist man seitens der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) auf abschreckende Beispiele wie das Bahnsystem im Vereinigten Königreich, während sich europäische Vorreiter wie die Schweiz oder eben Österreich durch eine stärkere Staatsorientierung und Direktvergaben auszeichnen. Wenn immer mehr gewinnorientierte Unternehmen auf den Schienenverkehrsmarkt drängen, laufen sie Gefahr, ihre Kalkulationen zu niedrig anzusetzen, um möglichst viele Ausschreibungen zu gewinnen. Unter Umständen sind die zu niedrig angesetzten Kalkulationen sogar so gravierend, dass ganze (Teil-)Unternehmen bankrottgehen – so geschehen bei der Abellio Rail, die bis zu ihrer Insolvenz 2022 im Regionalverkehr Nordrhein-Westfalens tätig war.

Mit Dumpingpreisen hatte das Tochterunternehmen der niederländischen Staatsbahn vor einigen Jahren die Ausschreibungen für eine Reihe von Verbindungen für sich entscheiden können. Wie auch andere Betreibergesellschaften ließ sich Abellio im Kampf um Marktanteile in Konkurrenz zur DB Regio auf absurde Vertragsbedingungen ein. So musste das Unternehmen selbst dann hohe Strafzahlungen für Zugausfälle und Verspätungen leisten, wenn diese durch Baustellen der ehemaligen DB Netz AG verursacht worden waren. Letztlich musste die öffentliche Hand in Gestalt des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) einspringen, indem es der Branche bis 2032 mit insgesamt 928 Millionen Euro unter die Arme greift. Statt die fatalen Folgen des ruinösen Wettbewerbs zu erkennen und aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, betrachtete die damalige NRW-Verkehrsministerin Ina Brandes (CDU) das Desaster als üblichen Vorgang der Marktbereinigung.

Hohe Erwartungen an die Bahn

Schließlich wird ein grundlegender Umstand meistens gänzlich verkannt: Die Bahn befindet sich bereits in einem ausgesprochen starken Wettbewerb – genauer gesagt: in einem harten intermodalen Wettbewerb, also in Konkurrenz zu anderen Verkehrsträgern. Sie muss sich gegen Konkurrenten im Straßen- und Luftverkehr behaupten, im Gütertransport auch gegenüber der Schifffahrt. Der vermeintliche intramodale Wettbewerb um den schnellsten, preiswertesten und komfortabelsten Zug – verbunden mit vielen verschiedenen Fahrplänen – führt Bahnfahrende hingegen nicht ans Ziel, sondern ins Chaos. Kurzum: Die im Volksmund fest verankerte Losung „Konkurrenz belebt das Geschäft“ trifft hier gerade nicht zu. 

Wenn der europäische Bahnsektor zur Erreichung der Klimaziele beitragen soll, muss die Liberalisierungsideologie weichen. Denn ein ideologiefreier Realitätscheck zeigt, dass sich die Verheißungen des Wettbewerbs nicht erfüllen. So wurde die DB AG vor 30 Jahren mit dem Ziel der Wettbewerbsfähigkeit ins Handelsregister der Stadt Berlin eingetragen und auf Gewinnorientierung verpflichtet. Die in der Ära des damaligen DB-Chefs Hartmut Mehdorn aufgesetzten Rationalisierungsprogramme wie „RZ 2000“, „Mora C“ und „RZ 2000 Plus“, in deren Rahmen unwirtschaftliche Infrastrukturen wie Weichen und Gleisanschlüsse, aber auch ganze Strecken rückgebaut oder stillgelegt wurden, hallt bis heute unheilvoll nach. Jeder Fan, der während der diesjährigen Fußball-Europameisterschaft per Bahn zwischen Hamburg und München unterwegs war, musste dies erfahren. Und auch der Blick über den Ärmelkanal ist lehrreich: Die frisch ins Amt gewählte Labour-Regierung in Großbritannien hat mit weitreichenden Renationalisierungsmaßnahmen eine Abkehr vom rigiden Wettbewerb auf der Schiene angekündigt. Österreich und die Schweiz hingegen, die ihre Eisenbahnen weitgehend in staatlichem Besitz und Betrieb belassen haben, stehen nach wie vor deutlich besser da. Sie zeigen, dass sich das Bahnwesen nicht länger dem Diktat der ebenso kurzfristigen wie kurzsichtigen Gewinnmaximierung unterwerfen darf, wenn die klimapolitisch unverzichtbare Mobilitätswende aufs Gleis gesetzt werden soll.