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Demokratie

Das neoliberale Korsett der europäischen Klimapolitik

Die EU hat sich vergleichsweise ehrgeizige Klimaziele gesteckt, um die Erderhitzung auf 1,5 oder zumindest deutlich unter 2 Grad Celsius zu begrenzen, wie es das Pariser Klimaabkommen festlegt. Im Jahr 2019 hat die Europäische Kommission mit dem Europäischen Grünen Deal das Ziel formuliert, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Als Zwischenziel wurde 2021 im europäischen Klimagesetz eine Senkung des Ausstoßes von Treibhausgasen bis 2030 um - 55 Prozent gegenüber 1990 festgelegt. Mit dem dazugehörigen Fit for 55-Paket hat die Kommission ein umfangreiches Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, um dieses Etappenziel zu erreichen: Dazu zählt unter anderem eine Reform des europäischen Emissionshandels, der in den 2010er Jahren aufgrund äußerst niedriger Preise für Emissionszertifikate und kostenloser Zuteilungen weitgehend zahnlos blieb. 

Die EU als Musterschüler im Kampf gegen den Klimawandel?

Seither haben die Preise deutlich angezogen. Zusätzlich wurde ein zweiter, separater Emissionshandel für die bislang nicht abgedeckten Bereiche Gebäude und Verkehr geschaffen. In den nicht vom Emissionshandel erfassten Sektoren müssen die Mitgliedstaaten ihre klimapolitischen Anstrengungen im Rahmen der so genannten Lastenverteilungsverordnung deutlich verstärken. Ländern, die diese Ziele nicht erreichen, drohen empfindliche Strafzahlungen in Milliardenhöhe – so auch Österreich. Darüber hinaus sieht das Gesetzespaket eine Reihe sektorspezifischer Maßnahmen vor – etwa zur Verringerung von Methan­emissionen im Energiesektor, zur Förderung nachhaltiger Flugtreibstoffe, zur Dekarbonisierung des Seeverkehrs oder zur Förderung erneuerbarer Energieträger und der Energieeffizienz. Der Landnutzungssektor in der EU soll bis 2030 sogar jährlich um 310 MtCO2e mehr Treibhausgase der Atmosphäre entziehen als in diese entlassen – das entspricht ungefähr dem Viereinhalbfachen der gesamten Treibhausgasemissionen Österreichs. 

Mit diesen Zielen und Maßnahmen inszeniert sich die EU gerne als klimapolitischer Musterschüler. Dabei ist die Lage alles andere als rosig. Nicht nur droht bei den anstehenden EU-Wahlen ein massiver Stimmenzuwachs für rechtspopulistische Parteien und damit ein offener Angriff auf die erreichten Schritte – ein klimapolitisches Backsliding, das sich hierzulande zunehmend auch die konservative Kräfte zu eigen macht. Auch die nach wie vor stark neoliberal geprägte wirtschaftspolitische Architektur der EU steht einem demokratischen, sozialen und ökologischen Umbau in mehrfacher Hinsicht entgegen. 

Wirtschaftspolitische Hindernisse für den sozial-ökologischen Umbau 

Erstens beschränken die EU-Fiskalregeln den Budgetspielraum der Mitgliedsstaaten für dringend nötige zusätzliche öffentliche Investitionen – etwa in die Bahn, den öffentlichen Nahverkehr oder die thermische Gebäudesanierung. Wurden die EU-Fiskalregeln im Zuge der Eurokrise sukzessive verschärft, sehen die aktuellen Reformvorschläge für den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakts zwar etwas mehr Flexibilität vor (indem die Mitgliedsländer individuelle Schuldenabbaupfade mit der Kommission verhandeln), eine „goldene Regel“, durch die dringend erforderliche, öffentliche Klimainvestitionen von den Fiskalregeln ausgenommen wären, fehlt aber weiterhin. Die geschätzte jährliche Investitionslücke in dreistelliger Milliardenhöhe zur Erreichung der Ziele des Europäischen Grünen Deals wird sich so nicht schließen lassen. 

Zweitens hat sich die EU während der Pandemie mit dem Wiederaufbaufonds NextGenerationEU erstmals zu einer gemeinsamen Verschuldung in großem Umfang durchgerungen, diese aber leider zeitlich begrenzt. Die so ermöglichten Zuschüsse an die Mitgliedsländer in Höhe von rund 340 Mrd. Euro fließen überwiegend in öffentliche Investition für Klimaschutz und Digitalisierung. Auf Drängen von Ländern wie Deutschland aber auch Österreich soll dies jedoch ein einmaliger Schritt bleiben – die Idee etwa, dem Inflation Reduction Act der Biden-Regierung in den USA einen europäischen Souveränitätsfonds mit ähnlicher industriepolitischer Schlagkraft für den ökologischen Umbau entgegenzusetzen, wurde vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz prompt eine Absage erteilt. Auch die europäischen Verträge setzen einer Ausweitung der gemeinsamen Verschuldung enge Grenzen. Während also der EU selbst die Eigenmittel für Investitionen in den sozialen und ökologischenUmbau fehlen, schränkt sie zugleich die Budgetspielraum der Mitgliedsländer empfindlich ein. 

Drittens haben sich die Euroländer mit der Architektur der Währungsunion noch ein zusätzliches fiskalpolitisches Korsett angelegt. Bei der Gründung der Währungsunion haben sie – insbesondere durch deutschen Druck – den folgenreichen Beschluss gefasst, dass die Europäische Zentralbank nicht als Kreditgeber letzter Instanz gegenüber den Staaten der Eurozone auftreten darf („Verbot monetärer Staatsfinanzierung“). Anders als die Staatsanleihen etwa der USA, Japans oder Großbritannien haben die Staatsanleihen der Euroländer deshalb ein besonderes Ausfallrisiko. Die Finanzarchitektur der Währungsunion führt damit systematisch zu Zinsaufschlägen und unnötig hohen Kosten für Kredite und die damit finanzierten Investitionen. 

Steuerwettbewerb und Beihilfenregeln als Hemmschuh

Nun ließe sich einwenden, dass Investitionen in den sozialen und ökologischen Umbau auch einnahmeseitig, also durch Steuererhöhungen finanziert werden könnten – und angesichts der extremen Vermögensungleichheit in Österreich und der EU auch sollten. Aber auch für solche Ansätze schafft die wirtschaftspolitische Architektur der EU ungünstige Ausgangsbedingungen: Das Einstimmigkeitsprinzip in Steuerfragen macht es nahezu unmöglich, wirksame europäische Mindeststeuersätze gegen Steuerdumping in der EU zu beschließen. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Wirtschaftsmodell einiger Länder wie Irland darauf beruht, Konzernen möglichst paradiesische Steuerbedingungen zu bieten. Mindestens ebenso schwierig ist es, die wirtschaftspolitische Architektur der EU als Ganze zu reformieren, da zentrale Prinzipien, wie die engen Grenzen für gemeinsame Verschuldung, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung oder das Einstimmigkeitserfordernis bei Steuerfragen im EU-Primärrecht verankert sind – und damit selbst wiederum nur einstimmig geändert werden können. 

Aber es gibt auch politische Dynamik. Neben der fiskalpolitischen Architektur galt lange Zeit das Wettbewerbs- und Beihilfenrecht der EU als wesentlicher Hemmschuh für den sozialen und ökologischen Umbau. Indem es Beihilfen in vielen Bereichen verboten und in den wenigen Ausnahmefällen hohen Begründungshürden unterworfen hat, waren die Mitgliedstaaten nicht nur fiskalpolitisch, sondern auch industriepolitisch in ihrer Gestaltungsfähigkeit beschränkt. In den letzten Jahren hat die Kommission hier allerdings deutlich ihren Kurs verändert. Im Rahmen sogenannter „Important Projects of Common European Interest“ (IPCEI) hat sie umfangreiche industriepolitische Förderungen in den Bereichen Wasserstoff sowie Batteriezellen- und Halbleiterfertigung gewährt. Auch die Ausnahmeregeln für die Förderungen von Technologien, denen die Kommission eine strategische Bedeutung für die Erreichung der Klimaziele beimisst, wurden sukzessive ausgeweitet. 

Trotz gewisser Lichtblicke lauern Gefahren

Das eröffnet Spielräume für die öffentliche Gestaltung des sozialen und ökologischen Umbaus, die in der Hochphase des Neoliberalismus undenkbar gewesen wären. Dennoch besteht kein Anlass zur Euphorie. Durch die Aushöhlung des Beihilfenrechts bieten sich neue Gelegenheiten für Konzern- und Lobbyinteresse, große Summen öffentlicher Gelder im Rahmen weitgehend undurchsichtiger Verfahren abzugreifen. Das neoliberale Mantra, Investitionsentscheidungen seien am besten „dem Markt“ zu überlassen, hat diese Gefahr noch verstärkt: Da sowohl auf EU-Ebene, als auch in den Mitgliedsstaaten, öffentliche industriepolitische Expertise über Produktionsverfahren in einzelnen Branchen verloren ging, ist die Abhängigkeit von privatwirtschaftlichem Know-how enorm. 

Solche industriepolitischen Kapazitäten wieder aufzubauen und mit demokratischen Elementen anzureichern, sollte oberste politische Priorität haben – nicht zuletzt, weil der sozial-ökologische Umbau auch eine Frage kritischer industriepolitischer Technologieentscheidungen ist. Es geht darum, bestimmte Pfade einzuschlagen und andere nicht zu beschreiten. Die aktuellen Auseinandersetzungen um den Net-Zero Industry Act der EU zeigen die damit verbundenen Gefahren besonders deutlich: Kann die Atom­energie als ‚Netto-Null-Technologie‘ ihr Comeback feiern (Siehe „Kontroverse“)? Ermöglichen übersteigerte Erwartungen an die Entwicklung von Technologien zur Entnahme und Abscheidung von CO2 aus der Atmosphäre den Öl- und Gaskonzernen ein weiteres „business as usual“? 

In der EU-Klimapolitik steht in den kommenden Jahren viel auf dem Spiel: Industriepolitisch gilt es, den Ausstieg aus den fossilen Energieträgern nicht weiter zu verschleppen und den Einsatz von Technologien zur Abscheidung von CO2 konsequent auf so genannte „hard to abate“-Sektoren wie die Zementindustrie oder die Abfallwirtschaft zu beschränken, in denen CO2-Ausstoß nicht vollständig vermieden werden kann. Fiskalpolitisch müssen endlich jene Investitionssummen mobilisiert werden, die der Dringlichkeit und menschheitsgeschichtlichen Dimension der Klimakrise entsprechen. Wird Klimapolitik dagegen mit Austerität kombiniert, entsteht ein toxischer, politischer Mix, der am Ende nur die rechtspopulistischen Kräftew weiter stärkt – und uns nicht nur klimapolitisch an den Abgrund führen würde.