Schwerpunkt
Demokratie
Zugang zum Wahlrecht: Ein gesellschaftlicher Kipppunkt
Der soziale und ökologische Umbau hin zu einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das nicht auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und natürlicher Ressourcen beruht, erfordert nicht weniger als die völlige Umgestaltung unserer bisherigen Lebens- und Produktionsweise. Ein solcher Transformationsprozess kann nur unter Einbeziehung so vieler Menschen wie möglich gelingen. Dies bedeutet, dass einerseits neue Formen der Mitbestimmung geschaffen werden müssen (Siehe Schwerpunktartikel "Der Umbau braucht Demokratie"), andererseits sind auch die bestehenden Möglichkeiten politischer Teilhabe, allen voran das Wahlrecht, neu zu überdenken.
Wer hat die Wahl?
Dreh- und Angelpunkt der repräsentativen Demokratie sind Wahlen. In regelmäßigen Abständen sind alle Wahlberechtigten aufgerufen, ihre Repräsentant:innen zu wählen, die dann Gesetze – und somit die grundlegenden Regeln unseres Zusammenlebens – beschließen. Wer in Österreich bei Nationalratswahlen wählen darf, ist in der Nationalratswahlordnung geregelt. Demnach sind dies grundsätzlich alle Staatsbürger:innen, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben. Von den rund 9,1 Millionen Einwohner:innen sind aufgrund dieser Vorgaben mehr als 1,7 Millionen Menschen im wahlfähigen Alter nicht berechtigt, ihre Stimme abzugeben. Dabei wurden 260.000 davon sogar hier geboren. In Wien ist die Situation noch deutlich verschärft: Nur 65,75 Prozent der Wiener:innen im wahlfähigen Alter besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft und sind damit auf allen Ebenen wahlberechtigt. (Siehe Grafik auf Startseite)
Ebenso setzen direktdemokratische Mittel zur politischen Teilhabe, wie Volksabstimmungen, Volksbegehren und Volksbefragungen eine Wahlberechtigung voraus. Blickt man auf die Zahl der Wahlberechtigten bei Nationalratswahlen, so wird allerdings schnell klar, dass eine Vielzahl der in Österreich lebenden Menschen keinen Platz in der repräsentativen Demokratie hat. Hand in Hand mit dem Ausschluss vom aktiven, geht auch der vom passiven Wahlrecht. Daher dürfen auch nur österreichische Staatsbürger:innen gewählt werden. Dies hat zur Folge, dass sich die Lebensrealität von beinahe 20 Prozent der Bevölkerung nicht unter den Entscheidungsträger:innen widerspiegelt.
Die aktuelle demokratische Schieflage ist historisch gewachsen und lässt sich auf gewisse Entwicklungen in der zweiten Republik zurückführen. Bis in die 1980er Jahre waren hohe Wahlbeteiligungen von über 90 Prozent zu verzeichnen, die jedoch kontinuierlich zurückgingen. Ungefähr zeitgleich nahm die Zahl der Einwohner:innen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft stark zu, während die Einbürgerungsrate relativ konstant blieb. Lediglich im Jahr 2003 stieg sie kurzfristig stark an. Seit 2004 klafft die Zahl der Einwohner:innen und der Wahlberechtigten durch rapide abnehmende Einbürgerungsraten allerdings noch verstärkt auseinander. Dieser Trend ist auf eine zunehmend restriktive Ausgestaltung des Zugangs zur Staatsbürger:innenschaft zurückzuführen.
Land der hohen Hürden
Neben der langen Anwartszeit von grundsätzlich zehn Jahren stellen in der Praxis vor allem die hohen Einkommenserfordernisse eine große Hürde für den Erwerb der österreichischen Staatsbürger:innenschaft dar. Wer eingebürgert werden möchte, muss in der Vergangenheit über regelmäßige Einkünfte verfügt haben und darf keine Leistungen aus der Sozialhilfe bezogen haben. Ein gesicherter Lebensunterhalt muss für 36 Monate innerhalb der letzten sechs Jahre nachgewiesen werden. Die Berechnung ist im Einzelfall sehr komplex. Von der Größenordnung her bedeuten die Vorgaben aber in etwa, dass z.B. ein Paar mit zwei Kindern nach Abzug regelmäßiger Aufwendungen wie Miete, Kredite oder Unterhaltungszahlungen über ein Einkommen von rund 2.100 € verfügen muss. Bei einem Netto-Medianeinkommen von rund 1.760 € monatlich für unselbständig Erwerbstätige und 1.390 € für Arbeiter:innen wird schnell klar, dass dieses Kriterium von sehr vielen Menschen nicht erfüllt werden kann.
Frauen sind besonders betroffen, weil sie durchschnittlich über ein geringeres Einkommen verfügen. Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2019 verfügten mehr als 30 Prozent der angestellten Frauen und mehr als 60 Prozent der Arbeiterinnen in ganz Österreich nicht über das für eine Einbürgerung notwendige Einkommen. Auch das Einbürgerungsverfahren selbst ist teuer. Allein die Bundesgebühren für die Verleihung der Staatsbürger:innenschaft liegen bei über 1.100 Euro. Folglich bleiben viele Menschen dauerhaft von der Staatsbürger:innenschaft und somit vom Wahlrecht ausgeschlossen.
Einer Studie zur EU-Integrationspolitik von MIPEX aus dem Jahr 2020 zufolge, gilt Österreich im Bereich der politischen Teilhabe als ausgrenzend. Im Vergleich zu den 56 Ländern, in denen die Studie durchgeführt wurde, bildet Österreich das Schlusslicht in puncto politische Teilhabe und gilt als das Land mit den unsichersten Zukunftsperspektiven für Drittstaatsangehörige. Dieselbe Studie weist darauf hin, dass die hohen Hürden bei der Einbürgerung sowie die mediale und politische Repräsentation migrantisierter Menschen dazu führt, dass diese in der breiten Öffentlichkeit als „Fremde“ und daher als ungleiche Bürger:innen wahrgenommen werden. Dies entspricht auch der Wahrnehmung migrantisierter Menschen selbst, die in verschiedenen Lebensbereichen (Arbeitsmarkt, Wohnraum, Aufstiegschancen) zunehmend rassistischer Ausgrenzung und Diskriminierung ausgesetzt sind, wie unter anderem der aktuelle Rassismus-Report von ZARA zeigt.
Heimat großer Ungleichheit
Neben der Staatsbürger:innenschaft werden in Österreich auch Wohlstand und Bildung vererbt. So sind Menschen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft um ein Fünffaches und Menschen, deren Eltern nicht in Österreich geboren wurden, um ein Vierfaches häufiger von Armut und Ausgrenzung betroffen als Österreicher:innen, die ihre Staatsbürger:innenschaft qua Geburt erwerben. Schließlich ist der Anteil der Menschen ohne Staatsbürger:innenschaft im Niedriglohnsektor um ein Vielfaches höher.
Der enge Zusammenhang von Staatsbürger:innenschaft und Einkommen, der sich schon beim Erwerb der Staatsbürger:innenschaft sehr eindrücklich zeigt, ist kein Zufall. Das Geschäftsmodell vieler Unternehmen beruht darauf, Menschen in besonders prekären Beschäftigungsverhältnissen zu halten. Je unsicherer der Aufenthaltsstatus von Beschäftigten ist, desto geringer sind ihre Möglichkeiten, schlechten Arbeitsbedingungen zu entkommen und sich gegen rechtswidrige Praktiken zu wehren. Welche Konsequenzen dies angesichts der Klimakrise hat, zeigt sich eindrücklich am Beispiel von Bauarbeiter:innen. Wie Gewerkschaft und Arbeiterkammer bereits mehrfach kritisiert haben, gibt es keinen gesetzlichen Anspruch, bei zu hohen Temperaturen im Sommer den Arbeitsplatz verlassen zu dürfen (Siehe „Betrieb“). Arbeitnehmer:innen sind demnach vom Wohlwollen ihres Arbeitgebers abhängig. Nur wer sozial und materiell abgesichert ist, wird sich dagegen wehren.
Viele Unternehmen, die Profite über Menschen stellen, verfügen aufgrund ihrer Kontakte und ihres Kapitals über die notwendigen Mittel, um politische Prozesse zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Demgegenüber sind prekarisierte Menschen von der politischen Teilhabe oft gänzlich ausgeschlossen. Ausbeutung funktioniert aber gerade dann, wenn schlechte Arbeitsbedingungen und ungleiche Abhängigkeitsverhältnisse zunehmend auf jene ausgelagert werden, die demokratisch keine Stimme haben.
Mit allen für alle
Der Ausbeutung von Mensch und Natur, die zu den heutigen Krisen geführt hat, waren lange Zeit kaum Grenzen gesetzt. Unternehmen konnten sich an den natürlichen Ressourcen bedienen und Profite machen, ohne wesentlichen Regulierungen zu unterliegen. Erst mit dem Aufkommen großer Umweltprobleme wurden entsprechende Regeln geschaffen, um Natur und auch Menschen zu schützen. Der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft wurden durch den Kampf von Gewerkschaften und Arbeiter:innenbewegung Schranken gesetzt. So können sich Arbeitnehmer:innen heute auf zahlreiche Rechte berufen und sind nicht länger der Willkür der Unternehmen ausgesetzt. Der Genuss, bzw. die Durchsetzung der so der so erkämpften Arbeitsrechte bleibt allerdings vor allem jenen vorbehalten, die zumindest über einen gesicherten Aufenthaltstitel verfügen.
Soll der soziale und ökologische Umbau gelingen, müssen daher auch die Rechte prekarisierter Menschen gestärkt werden, um sie der ökologischen und ökonomischen Ausbeutung zu entziehen. Dies bedeutet auch, die Hürden zum Erwerb der Staatsbürger:innenschaft abzubauen und damit politische Teilhabe zu ermöglichen. Eine Neugestaltung unseres Zusammenlebens kann nur funktionieren, wenn sie von allen mitgetragen wird und auch die Interessen aller berücksichtigt.