Schwerpunkt

Neustart mit Chancen

Die Fesseln der Wertschöpfungsketten

Der Rückgang des Verkehrsaufkommens, die Verringerung der Luftverschmutzung und der Treibhausgasemissionen, wie sie im März und April zu erleben waren, sind beispiellos. Viel mehr Menschen als sonst fuhren mit dem Fahrrad. Ein Flugzeug am Himmel war eine seltene Erscheinung.

Hier zeigt sich, was fortschrittliche Umweltpolitik erreichen könnte. Könnte, wohlgemerkt, denn diese Phänomene sind nicht Ergebnis von Design, sondern von Desaster. Sie sind die Folge einer Epidemie und vor allem der weitreichenden Einschränkung des gesellschaftlichen Lebens als Schutz vor COVID-19. Sie sind nicht Ergebnis einer Klimapolitik, die in den nächsten zwei oder drei Jahrzehnten von Kohle, Erdöl und Erdgas loskommen will, oder ähnlich weitreichender umweltpolitischer Ziele. 

Der Staat kann entschieden handeln

Die Corona-Krise hat aber auch deutlich gezeigt, dass Gesetzgebung und Regierung schnell handeln können. Wenn die Situation es erfordert, können weitreichende Maßnahmen umgesetzt werden, Maßnahmen, die weitgehend die Zustimmung der Bevölkerung fanden. Denn die Dringlichkeit der Situation war vielen bewusst.

Es werden hier die Möglichkeiten einer fortschrittlichen Umweltpolitik sichtbar, die weit über die kleinliche Diskussion irgendwelcher Förderungen für Wärmedämmung und Elektroautos hinausgeht. Die positiven Effekte laden zum Nachdenken darüber ein, was es bräuchte, um diese Utopie zu realisieren. Die negativen Folgen der Pandemie sind das Szenario, zu dem dabei ein Gegenentwurf entwickelt werden muss. 

Rückgang des Konsums … 

Als gesundheitlicher Notstand ist die COVID-19-Pandemie in Österreich bisher recht glimpflich verlaufen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind aber weitreichend: Es kam zu einem dramatischen Einbruch der Konsumnachfrage. Gastronomie und Tourismus kamen fast völlig zum Stillstand, Kunst- und Kulturinstitutionen mussten die Tore schließen, und auch viele Sparten im Einzelhandel kamen zum Erliegen. Schon im März – anfangs noch ohne Ausgangsbeschränkungen – lag die Nachfrage nach Konsumgütern (ohne Lebensmittel) um fast 30 Prozent niedriger als im März des Vorjahres. Dieser Rückgang spiegelt sich auch in den Staatseinnahmen wider: Diese waren im April 2020 um 2,2 Milliarden Euro geringer als im April 2019. Allein das Aufkommen der Umsatzsteuer sank in diesem Monat im Vergleich zum Vorjahr um 31 Prozent. 

Dieser Nachfrageeinbruch zog sofort auch Produktionsrückgänge nach sich. Die Folge: ein beispielloser Anstieg der Arbeitslosigkeit. Die rasche Einführung von Kurzarbeit in vielen Betrieben konnte noch höhere Arbeitslosigkeit verhindern.

… führt zum Rückgang der Produktion

Die internationale Verflechtung der Wirtschaft hat zur Folge, dass der Nachfrageeinbruch in Europa, der sich ab Februar bemerkbar machte, auch die Länder trifft, die Europas Fabriken und KonsumentInnen beliefern. Damit trifft die Pandemie viele Menschen in diesen Ländern doppelt: durch die Krankheit und durch die Armut.

Denn in Staaten ohne funktionierendes öffentliches Gesundheitssystem, etwa in Brasilien, Peru, aber auch den USA, ist die Lage dramatisch. Dort trifft die Krankheit in viel höherem Maß die arme Bevölkerung. Die Eindämmung funktioniert schlechter, weil Menschen arbeiten gehen müssen, wenn kein soziales Netz da ist, das sie hält.

Indische Tagelöhner*innen standen durch den Lockdown plötzlich vor dem Nichts. Näher*innen in Ostasien wurden für die schon geleistete Arbeit ihre Hungerlöhne vorenthalten, weil Modeketten die Bestellungen stornierten. Hunderten Millionen Schulkindern fehlte durch die Schulschließungen ihre Hauptmahlzeit. 

Wieder trifft es die Armen

Aber auch in Österreich trifft der Lockdown die Reichen und die Armen verschieden stark. Zum Höhepunkt der Corona-Krise war mehr als eine halbe Million Menschen in Österreich arbeitslos. Besonders stark traf das die Gastronomie, das Transportwesen und den Bau – Branchen, die nicht für hohe Löhne bekannt sind. Statt des ohnehin schlechten Lohns gibt es nur 55 Prozent davon als Arbeitslosengeld. Für Menschen, die geringfügig angestellt waren oder scheinselbstständig auf McJobs angewiesen waren, ist die Lage noch prekärer. Im Gegensatz dazu konnten Menschen aus besser bezahlten Berufsgruppen ins Home-Office wechseln oder erhielten im Falle von Kurzarbeit immerhin noch zumindest 80 Prozent ihres Gehalts.

Ausgangssperre und Heimarbeit lassen auch die Ungleichheit der Wohnverhältnisse zutage treten. Für viele Menschen in beengten Wohnverhältnissen wird die Isolation zur echten Belastungsprobe. Wenn dann noch Schulkinder zu betreuen sind und Großeltern keine Betreuung übernehmen können, kann die Situation eskalieren. 

Man muss kein Marxist sein, um zu erkennen, dass der Kapitalismus gleichermaßen auf der Ausbeutung von Arbeitskraft und Umwelt beruht. Die spannende Frage besteht darin, wie die Rahmenbedingungen geändert werden müssen, damit menschenwürdige Arbeit für alle und größtmöglicher Umweltschutz kein Widerspruch sind. 

So wird die Wirtschaftsleistung in Österreich heuer deutlich schrumpfen. Gleichzeitig haben wir alle während des Lockdowns zu spüren bekommen, welche Produkte und Dienstleistungen wirklich wichtig sind und welche nicht. Wenn wir unseren Konsum zurückfahren, bedeutet dies in der derzeitigen Wachstumslogik, dass Menschen arbeitslos werden. Die Schlussfolgerung ist einfach: Arbeit ist ein knappes Gut. Es gilt, sie fair zu verteilen.

Arbeit: ein knappes Gut

Das betrifft natürlich nicht nur für die unselbstständig Beschäftigten. Soll die faire Verteilung von Arbeit funktionieren, dann muss McJobs und Scheinselbstständigkeit ein Riegel vorgeschoben werden. Auch Selbstständige dürfen nicht mehr als den fairen Anteil vom Kuchen der verfügbaren Arbeit haben. 

Und es ist klar, dass das kein Programm sein kann, das auf Österreich oder auf die EU beschränkt ist. Es muss verhindert werden, dass Unternehmen die Ausbeutung von Arbeit weiter in die Dritte Welt – in den Globalen Süden, wie es heute heißt – verlagern. 

Mit dem Abschied von fossilen Brennstoffen in der EU ist es genauso: Eine Verringerung der Emissionen in der EU ist nur dann ein Schritt zum Schutz des Klimas, wenn diese Emissionen nicht in andere Staaten verlagert werden. Derzeit ist aber eine fortschreitende Auslagerung von Produktionsprozessen in Drittstaaten zu beobachten. Diese globale Arbeitsteilung hat sich nun als sehr fragil und störanfällig erwiesen. Zu jeder Tonne an Treibhausgasen, die in Österreich emittiert wird, kommt durch Importe von Gütern noch eine halbe Tonne außerhalb der EU. Auch wenn also in der EU die Emissionen sinken, weltweit steigen sie weiterhin an. 

Auch in einer globalisierten Welt lassen sich die Arbeitsbedingungen für alle Menschen verbessern, die Ressourcen maßvoll nutzen und die Überlastung des Klimas verhindern. Dazu braucht es eine faire Verteilung der verfügbaren Ressourcen und eine faire Verteilung von Arbeit. Weltweit.

In Abwandlung eines berühmten Textes von Marx und Engels könnte es heißen: Die Arbeitnehmer*innen haben nichts zu verlieren als die globalen Wertschöpfungsketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.