Politik

Kein Green Deal ohne Social Deal

Auf den ersten Blick erscheint die Corona-Krise wie eine unverhoffte Atempause für das Weltklima: Jüngsten Einschätzungen zufolge könnte der Rückgang in Produktion und Konsum in der ersten Jahreshälfte 2020 Ländern wie Deutschland und Österreich gar erlauben, die bereits verloren geglaubten Klimaziele für dieses Jahr doch noch zu erreichen. Weltweit gingen die CO2-Emissionen zeitweise um bis zu 17 Prozent zurück – so stark wie seit 60 Jahren nicht mehr. Doch auf den zweiten Blick wird klar, dass damit langfristig noch nichts gewonnen ist: Fällt die Wirtschaft im Zuge der konjunkturellen Erholung in alte Muster zurück, so könnte die vermeintliche Atempause binnen kurzer Zeit zunichte gemacht werden. Hinzu kommt, dass der Konjunktureinbruch tiefe Löcher in öffentliche wie private Investitionsbudgets reißt – was die Chancen auf die Entwicklung klimafreundlicher Technologien und Produktionsweisen zusätzlich mindert. Ein „Zurück auf Los“ nach der Krise hätte verheerende Folgen für unsere Gesellschaften – nicht nur, aber vor allem in der Klimapolitik. 

photovoltaik_panels.jpg

Die Frage nach dem „Wie“ 

In der aktuellen Debatte geht es also nicht darum, ob wir nach der Corona-Rezession eine ernsthaftere Klimapolitik brauchen, sondern vielmehr darum, wie wir diese gestalten können. Für die europäischen Gewerkschaften stehen dabei zwei Dinge fest: 

Zum einen müssen wir im Kampf gegen den Klimawandel mutiger werden: Schon seit Jahren fordert der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) ambitioniertere Klimaziele: Statt einer Senkung der EU-weiten CO2-Emissionen um 40 Prozent bis zum Jahr 2050, wie es die Europäische Kommission vorsieht, tritt der EGB für eine Senkung um 55 Prozent schon bis 2030 ein; allerdings unter der Bedingung, dass in den Mitgliedstaaten entsprechende Voraussetzungen durch eine begleitende aktive Industrie-, Struktur- und Beschäftigungspolitik geschaffen werden. Das wird nur durch einen tiefgreifenden Umbau der Wirtschaft hin zu nachhaltiger Produktion und verantwortungsvollem Konsum gelingen. Um diese Transformation auch umsetzen zu können, muss der enorme Investitionsstau, der sich in Jahren der Austeritätspolitik in der EU gebildet hat, endlich beendet werden. Der EGB rief den Europäischen Rat auf, einen Klimafinanzierungspakt auf die Beine zu stellen, der massive Investitionen in energetische Gebäudesanierung, ins Schienennetz und alternative Energien ermöglicht. Der DGB fordert in diesem Zusammenhang eine Steigerung der EU-weiten Energie-Effizienz um 40 Prozent bis 2030.

Darüber hinaus müssen wir die Klimafrage als das begreifen, was sie ist: eine soziale Frage. Dazu gehört zunächst, dass wir beim Umbau der Wirtschaft niemanden zurücklassen: Der Kampf gegen den Klimawandel wird nur dann erfolgreich sein, wenn er von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen wird. Deshalb müssen wir für Beschäftigte in Branchen, die im Zuge dieses Umbaus schrumpfen oder gar verschwinden werden, im Rahmen einer „Just Transition“, eines gerechten Übergangs, neue Perspektiven schaffen. Der deutsche „Kohlekompromiss“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Sozialpartner gemeinsam mit der Regierung dafür sorgen können, dass Strukturwandel ein Erfolgsprojekt für alle wird – für das Klima, für Unternehmen, die sich zukunftsfähig neu aufstellen, und für die Arbeitnehmer*innen, denen durch eine verlässliche Absicherung und Weiterbildung auch in Zeiten des Umbruchs die Chance auf eine erfolgreiche Erwerbsbiografie gegeben wird. 

Mutige Politik für Europa 

Um sowohl die dringend notwendigen Investitionen in eine klimaneutrale Wirtschaft finanzieren als auch eine gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung erreichen zu können, müssen wir uns stärker als bisher mit der staatlichen Einnahmenseite beschäftigen. Wie die Corona-Pandemie eindrucksvoll bewiesen hat, werden die Krisen der Zukunft – auch die Klimakrise – europäische Krisen sein. Kein Mitgliedstaat wird diese alleine lösen können. Und mehr noch: Die mangelhafte Krisenbewältigung in einem Mitgliedstaat wird durch die wechselseitige Abhängigkeit auf dem Binnenmarkt immer auch negative Folgen für den Rest der Union haben. Deshalb kommt es bei der institutionellen Weiterentwicklung der Europäischen Union (EU), die schon bald im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas in Angriff genommen werden soll, auf gemeinsame Lösungen statt ungesunder Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten an. 

Denn die zweite globale Krise des 21. Jahrhunderts ließ die Aktienwerte börsennotierter Unternehmen dramatisch sinken. Ein guter Nährboden für einen Übernahmeanstieg durch außereuropäische Konzerne. Die Begehrlichkeit erstreckt sich auf Schlüsseltechnologien. Zuletzt stand das Pharmaunternehmen CureVac wegen seiner fortgeschrittenen COVID-19-Forschung auf der US-amerikanischen Einkaufsliste. Auch hat sich die europäische Industrie, nicht zuletzt die Pharmaindustrie, durch Outsourcing in eine ungesunde Abhängigkeit von Drittstaaten gebracht. Durch die plötzlichen Grenzschließungen bzw. Quarantänebestimmungen kam es zu Lieferengpässen in allen Bereichen, von Nahrungsmitteln, über Ersatzteillieferungen zu Arzneimittelgrundstoffen und Gesundheitsausrüstung. Ein entsprechender Schutz vor feindlichen Übernahmen ist möglich. Dieser sollte komplementär mit einer Investitionsstrategie ergänzt werden, die F&E-Aktivitäten innerhalb der EU fördert und hält. Damit würde die Basis für europäisches strategisches Eigentum und ein solidarisches Krisenmanagement allen voran in der Gesundheitsvorsorge bereitet. 

Um das zu ermöglichen, setzen sich die europäischen Gewerkschaften schon lange für eine Stärkung der europäischen Eigenmittel ein. Die Einnahmenseite steckt auf europäischer Ebene noch in den Kinderschuhen. Das im Zuge der Corona-Krise geschnürte Wiederaufbau-Paket der EU gibt der Debatte nun wieder Schwung: Mit neuen europäischen Haushaltsmitteln könnte vermieden werden, dass die Rückzahlung der durch die Europäische Kommission aufgenommenen Schulden bis 2058 Einschnitte in zukünftige EU-Haushalte bedeutet, so Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Neben der Bekämpfung von Steuerschlupflöchern und -oasen kommen hier Ideen wie eine EU-weite Finanztransaktionssteuer oder eine Besteuerung der Plattformwirtschaft ins Spiel. Auch eine Ausweitung des EU-Emissionshandels, der ebenfalls europäische Einnahmen generiert, ist schon länger in der Diskussion. 

Ein starker EU-Haushalt basierend auf europäischen Eigenmitteln kann die Klima- mit der sozialen Frage vereinen: So werden nicht nur indirekte Transfers zwischen den Mitgliedstaaten möglich, sondern auch Zukunftsinvestitionen, die die Ungleichheiten innerhalb der Mitgliedstaaten verringern. Damit kämen drei zentrale Anliegen der europäischen Gewerkschaftsbewegung zu-sammen: eine Stärkung der europäischen Gemeinschaft durch mehr Solidarität; ein ambitioniertes und solide finanziertes Programm zur Bekämpfung des Klimawandels; und die wirksame Bekämpfung von sozialen Ungleichheiten in den Mitgliedstaaten. So würde der Green Deal zu einem Social Deal – und zu einem Segen für Europa.