Schwerpunkt
Nachhaltiger Wohlstand
Wohlstand heute: Freiheit-Gleichheit-Nachhaltigkeit
Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut“, lautet ein legendärer Werbespruch der WKO aus dem Jahr 2004. Schon Adam Smith hat in seinem 1776 erschienenen Hauptwerk die Bedeutung der Arbeit, der Spezialisierung und des individuellen Strebens nach Glück als wesentliche Grundlage für den „Wohlstand der Nationen“ hervorgehoben. Klar war hier wie dort, dass die Verallgemeinerung des Wohlstands von einem funktionierenden Gemeinwesen abhängig ist, der Staat – im Sinne der WKO wohl auch die Sozialpartner – muss ordnend und fördernd eingreifen. Dass individuelle Freiheit in einem engen Zusammenhang mit Gleichheit und Brüderlichkeit steht, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen, zeigte noch vor Smiths Tod der Umsturz in Frankreich, wo er als junger Wissenschaftler eine ausgedehnte Bildungsreise unternahm.
Seit der Geburtsstunde der modernen Volkswirtschaftslehre vor bald 250 Jahren haben sich die politischen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens grundlegend geändert. Der Wahlspruch der französischen Republik fand nach dem zweiten Weltkrieg in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Eingang. Heute kann ein vergleichsweise großer Teil der Weltbevölkerung an freien Wahlen teilnehmen, der Zugang zu universeller Bildung und Gesundheitsversorgung ist für viele Menschen gewährleistet, die Ernährungsfrage stellt sich in anderer Form als im 18. Jahrhundert.
In einer wirtschaftlich und kulturell globalisierten Welt, die sich noch dazu dynamisch verändert, müssen die Bedingungen eines gedeihlichen Zusammenlebens – national und in der Weltgemeinschaft – dennoch regelmäßig neu vermessen werden.
Produktivität und Sozialstaat
Wirtschaftlich waren die letzten 200 Jahre durch massive Produktivitätsfortschritte gekennzeichnet. Gemeinsam mit spezifischen Formen sozialstaatlicher Einbettung sorgten sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere in Europa, teils auch in anderen Regionen dafür, dass ein zu Zeiten Adam Smiths schwer vorstellbares Niveau an materiellem Wohlstand für die breiten Schichten der Bevölkerung möglich wurde. Ausgeblendet blieb im Mainstream der ökonomischen Diskussion lange Zeit, dass diese Wohlstandsgewinne nicht nur durch technologischen Fortschritt – und den Einsatz von Arbeitskraft und Kapital – erzielt wurden, sondern zu einem wesentlichen Teil auf der Nutzung natürlicher Ressourcen – nicht zuletzt für die Energiegewinnung – beruhten. Erst in den 1970er Jahren bekamen diese Grenzen des Wachstums eine breitere politische Aufmerksamkeit.
In den 1980er Jahren wurde die Diskussion über stetige Wohlstandssteigerungen in einer materiell geschlossenen Welt schließlich intensiviert. Die UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung legte unter Vorsitz von Gro Harlem Brundtland im Jahr 1987 ihren berühmten Bericht vor, mit dem der Grundstein für die heutige Diskussion zu nachhaltiger Entwicklung gelegt wurde. Im Anschluss daran wurden der Rio-Gipfel abgehalten und wesentliche internationale Umweltabkommen wie die Klimarahmenkonvention verabschiedet. In der Ökonomie etablierte sich ebenfalls in den 1980er Jahren ein interdisziplinärer Forschungsbereich, der sich systematisch der Erforschung nachhaltigen Wirtschaftens innerhalb der natürlichen Systemgrenzen widmete – die ökologische Ökonomie. Die gerechte Verteilung des erwirtschafteten Wohlstands bekam von Anfang an hohe Aufmerksamkeit.
Entwicklung – jenseits des Bruttoinlandsprodukts
In diesem Zusammenhang wurden auch Alternativen zur Praxis, Wohlstand und Entwicklung primär über die Kennzahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen – insbesondere das Bruttoinlandsprodukt – zu bestimmen, gesucht. Viel Aufmerksamkeit erhielt der UN-Human Development Index (HDI), der auch die Lebenserwartung und den Bildungsstand in einer Gesellschaft berücksichtigt. Umwelt- und Verteilungsaspekte waren zusätzlich im Index of Sustainable Economic Welfare (ISEW) enthalten. Beide wurden – wie die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen – um das Jahr 1990 entwickelt und fielen damit in eine Zeit rasanter politökonomischer Umwälzungen. Im Rückblick waren die Dekaden um das Millennium stärker von einer „Entfesselung der Märkte“ in Ost- und Westeuropa, im Globalen Norden und Süden charakterisiert als von der notwendigen Nachhaltigkeitswende.
Die 2000er Jahre waren in vielerlei Hinsicht ambivalent. Der weltweite Ausstoß an Treibhausgasen stieg in diesem Jahrzehnt – gemeinsam mit dem Energieverbrauch – deutlich stärker an als noch in den 1990er Jahren. Das lag nicht zuletzt an der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in großen Schwellenländern wie China.
Gleichzeitig bemühten sich die meisten Industrieländer erstmals in der Geschichte ernsthaft darum, die im Rahmen des Kyoto-Protokolls völkerrechtlich vereinbarten Ziele zur Reduktion des Treibhausgasausstoßes zu erreichen. Die international akkordierten Milleniums-Entwicklungsziele hatten wiederum primär die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Ökonomien des globalen Südens im Auge. Die wohlhabenden Staaten sollten hier vor allem durch den Aufbau einer globalen Partnerschaft Unterstützung leisten, mussten selbst jedoch wenig ändern.
Sein und Bewusstsein in der großen Rezession
Der verbreitete Glaube an ein (finanz-)marktgetriebenes Modell wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung änderte sich schlagartig mit der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007, die auch bei überzeugten Wirtschaftsliberalen – zumindest kurzfristig – ein Umdenken nahelegte. Ohne ein europäisch und international abgestimmtes Vorgehen in der Krisenbekämpfung wären die sozialen Kosten des Zusammenbruchs in den darauffolgenden Jahren ungleich höher gewesen. Angesichts der Notwendigkeit umfassender konjunktur- und geldpolitischer Interventionen setzten sich schon damals manche Stimmen für eine Fokussierung auf Maßnahmen ein, die einen sozial-ökologischen Strukturwandel beschleunigen. Im Auftrag der französischen Regierung war zur gleichen Zeit eine Kommission tätig, die das Denken über sozialen Fortschritt nachhaltig prägen sollte.
Diese Kommission um die Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen verdeutlichte, dass für die Messung der Wirtschaftsleistung und des sozialen Fortschritts neben dem Einkommen u.a. die – auch subjektiv empfundene – Lebensqualität und die Beziehungen zwischen ihren vielfältigen Dimensionen, das Maß an gesellschaftlicher Ungleichheit oder die nachhaltige Verfügbarkeit von Ressourcen entscheidend ist. Damit wollte man die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Regierenden über eine geeignetere Datengrundlage für die politische Gestaltung der Gesellschaft verfügen. Der Bericht wurde von der OECD und der Europäischen Statistischen System mit offenen Armen aufgenommen. Statistik Austria entwickelte u.a. auf Basis dieser Empfehlungen das Projekt „Wie geht’s Österreich“, mit dem seit 2012 die Wohlstandentwicklung differenziert dargestellt wird.
Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Welt
Ebenfalls 2012 wurden auf der Rio+20-Konferenz die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals bzw. SDGs) beschlossen. Anders als in den 2000er Jahren sollten Umweltziele und die Reduktion von Ungleichheiten des Lebensstandards wesentlich mehr Gewicht bekommen. Damit hält die neue Entwicklungsagenda im Kern Aufgaben für sämtliche UN-Mitgliedstaaten bereit. In der EU bezieht sich mittlerweile das sogenannte „Europäische Semester“ zur Koordination der Wirtschaftspolitik auch auf die SDGs. Mit dem European Green Deal, der aktuellen Wachstumsstrategie der Kommission unter Ursula von der Leyen, wurden daneben die Ziele des Pariser Klimaübereinkommens von 2015 zur maßgeblichen Richtschnur der europäischen Politik. Bis 2050 soll Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent werden. Der Übergang dorthin soll laut EU-Strategie auf sozial gerechte Weise erfolgen.
Wesentliche Aspekte der SDGs werden auch im AK Wohlstandsbericht aufgegriffen (siehe Kasten rechts). Gute Arbeit und ökonomische Stabilität bekommen dabei ein besonderes Augenmerk. Denn auch im 21. Jahrhundert lässt sich Wohlstand nur sichern, wenn es (volks-)wirtschaftlich gut läuft. Angesichts der aktuellen Krisen – Klima, Gesundheit, Beschäftigung – ist der Investitionsbedarf immens, nicht zuletzt von staatlicher Seite. Dafür braucht es neben funktionierenden Finanzmärkten vor allem öffentliche Haushalte, die über eine ausreichende Manövriermasse verfügen. Das erfordert eine faire Verteilung der Krisenkosten. Sollen gleichzeitig alle Staaten und die Umwelt vom Handel profitieren, ist eine nachhaltige Handelspolitik und ein zielgerichteter Ausbau der Entwicklungszusammenarbeit notwendig. Nur mit Solidarität wird sich Wohlstand im 21. Jahrhundert verwirklichen lassen.