Schwerpunkt

Wachsende Ostregion

Arbeitswege im Rückspiegel. Ein Blick nach vorne

Mobilität ist das Lebenselixier des Binnenmarkts und prägt die Lebensqualität der Bürger, die ihre Reisefreiheit genießen.“ Diese Sichtweise verkündet die Europäische Kommission in ihrem Weißbuch Verkehr, das als Grundlagenpapier für die Herausforderungen und Lösungsansätze im Verkehrsbereich für die kommenden Jahrzehnte gilt. In diesem Artikel geht es um die „Reisefreiheit“ der ArbeitnehmerInnen. Mobilität, so heißt es, eröffnet Möglichkeiten und ist aus unserer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht wegzudenken. Im gleichen Atemzug wird deshalb das Argument vertreten, dass wir immer mehr Verkehr brauchen. Vor allem aber wird gefordert, dass ArbeitnehmerInnen noch mobiler werden müssen – gemeint ist damit, dass sie noch weitere Wege und noch höhere Kosten auf sich nehmen sollen. Nicht sichtbar sind der Aufwand und die Verlierer dieser vom Wettbewerb getriebenen Strategie.

Wie die Daten der Statistik Austria aus den Volkszählungen 1971 bis 2001 zeigen, haben sich die Zeiten, die für den Arbeitsweg aufgewendet werden, nur marginal verändert. So erreichten 1971 fast drei Viertel der PendlerInnen ihre Arbeitsplätze mit einem Zeitaufwand von maximal 30 Minuten je Wegstrecke – 2001 waren es 74,1 Prozent. Unberücksichtigt bleibt bei dieser Betrachtung jedoch in Relation dazu die überproportional starke Zunahme an Teilzeitbeschäftigten. Zu den zurückgelegten Distanzen gibt es nur sehr grobe Klassifizierungen. Fakt ist jedoch, dass mit einem Rückgang um neun Prozent immer weniger ArbeitnehmerInnen ihre Arbeit in der Wohngemeinde finden. Gleichzeitig hat sich in den vergangenen 30 Jahren die Zahl der PendlerInnen, die auf ihrem Arbeitsweg in ein anderes Bundesland pendeln, mehr als verdreifacht, ebenso die Zahl der PendlerInnen, die in einen anderen Bezirk auspendeln. Dramatisch verändert hat sich in diesen 30 Jahren vor allem, mit welchen Verkehrsmitteln die ArbeitnehmerInnen zu ihren Arbeitsplätzen kommen. Waren es in den 1970er Jahren noch 30 Prozent, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad ihre Arbeitsplätze erreichen konnten, so ist dieser Anteil bis 2001 auf magere zwölf Prozent gesunken. Der Anteil der Pkw-PendlerInnen ist demgegenüber von 36 Prozent auf 68 Prozent gestiegen. 

Die genannten Modal Split-Zahlen verschleiern aber, dass im genannten Zeitraum auch die Zahl der pendelnden ArbeitnehmerInnen um 40 Prozent gestiegen ist. Waren Anfang der 1970er Jahre noch knapp unter 800.000 PendlerInnen täglich mit dem Auto unterwegs, so waren es 2001 über zwei Millionen. Demgegenüber ist die Zahl der zu Fuß gehenden PendlerInnen um fast 60 Prozent eingebrochen, die Zahl der BahnpendlerInnen hat um 15 Prozent zugenommen. Das bedeutet aber nicht, dass damals niemand ein Auto hatte. 1979 gab es in 55 Prozent der Haushalte einen Pkw, 2010 waren es 77 Prozent.  Wie die Grafik im Kasten auf Seite 13  verdeutlicht, war in den 1970ern eigentlich schon Realität, was heute in aller Munde ist – Multimodalität. 

Hohe Verkehrsausgaben

Forschungsergebnisse zeigen, dass der Zugang zur Auto-Mobilität sehr selektiv ist und einen hohen Preis hat. Eine Sonderauswertung der Mobilitätserhebung Niederösterreich kommt zu dem Ergebnis, dass gerade Arbeitslose und Frauen zu 49 bzw. 44 Prozent nicht jederzeit Zugang zu einem Pkw haben. Bei der Gruppe der Voll- oder Teilzeitbeschäftigten machten nur 18 bis 20 Prozent diese Angabe. Daten der Statistik Austria verdeutlichen, dass Frauen durchwegs kürzere Wege zum Arbeitsplatz zurücklegen als Männer. In der Regel, weil sie für die Kinderbetreuung zuständig sind und daher in der Nähe des Wohnortes bleiben. Und: während es bei Männern keine Rolle für die Pendeldistanzen spielt, ob Kinder vorhanden sind oder nicht, bedeuten Kinder im Haushalt für Frauen eine noch stärkere Bindung an den regionalen Arbeitsmarkt. Die vorwiegend auf den eigenen Pkw ausgerichteten Arbeitsmarktchancen kommen also nicht allen gleichermaßen zugute. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Schere zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigung stets weiter aufgeht. So hat seit Mitte der 1990er Jahre die Zahl der unselbständig Erwerbstätigen um knapp 14 Prozent zugenommen, die Zahl der Teilzeitbeschäftigten ist um das 2,5-fache gestiegen. Das bedeutet, dass immer mehr PendlerInnen teure Arbeitswege auf sich nehmen (müssen), bei vergleichsweise geringen Einkommenschancen. Teilzeitarbeit bedeutet überproportional hohe Wegzeiten und Kosten. So lautet das Verhältnis Arbeitszeit zu Wegzeit bei 20 Stunden Arbeitszeit und einer Stunde Wegzeit 1:4, bei 40 Stunden nur 1:8. Insofern ist die oben gefundene konstante Dauer der Arbeitswege relativ zu sehen. Bei der AK-PendlerInnenbefragung zeigte sich, dass es Gruppen von ArbeitnehmerInnen gibt, die bis zu 20 Prozent ihres Einkommens gleich wieder in ihre Arbeitswege investieren müssen – und dies teilweise bei monatlichen Einkommen von unter 900 Euro netto.

Der Genuss der „Reisefreiheiten“ hat also einen enormen Preis. Nach dem Wohnen sind Verkehrsausgaben die zweitgrößte Belastungsquelle der österreichischen Haushalte. Diese geben also für ihre Transporte von A nach B mehr aus, als für ihre Ernährung, oder auch für Freizeit und Sport. Allerdings sind Verkehrsausgaben sehr stark davon abhängig, ob Alternativen zum Pkw vorhanden sind oder nicht. In ländlichen Regionen mit bis zu 10.000 EinwohnerInnen gibt ein durchschnittlicher Haushalt für den Bereich Verkehr monatlich etwa 500 Euro, für den öffentlichen Verkehr nur 18 Euro aus. In Regionen mit mehr als 100.000 EinwohnerInnen liegen die Gesamtausgaben für den Verkehrsbereich bei 340 Euro und bei 33 Euro für den öffentlichen Verkehr. 

Potenziale sind vorhanden

Mobilitätserhebungen in den Bundesländern zeigen, dass es noch ungenutzte Potenziale gibt, Arbeitswege unabhängiger vom Pkw zurückzulegen, auch im ländlichen Raum. So sind etwa in Vorarlberg rund 26 Prozent der Arbeitswege kürzer als 2,5 km und 45 Prozent kürzer als fünf Kilometer. Untersuchungen für Niederösterreich kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Diese Distanzen können ohne nennenswerten Zeitverlust auch mit dem Fahrrad oder Pedelec zurückgelegt werden. Zu Fuß und mit dem Rad sind in Vorarlberg auch fast 24 Prozent der PendlerInnen unterwegs, der Autoanteil liegt bei 57 Prozent. 

Die Veränderung der Verkehrsmittelwahl hat sich auch in Wien vollzogen – allerdings in eine andere Richtung, wie die Grafik im Kasten auf Seite 13 zeigt. In den 1970ern waren noch ein Viertel aller österreichischen AutopendlerInnen in Wien unterwegs, 2001 nur noch ein Siebentel. Auffallend ist, dass 2001 nur 20 Prozent der Wiener PendlerInnen sehr kurze Reisezeiten von unter 15 Minuten für eine Wegstrecke hatten. Bei den BurgenländerInnen und NiederösterreicherInnen waren es über 40 Prozent. Dabei legten 55 Prozent der WienerInnen ihre Arbeitswege im Umweltverbund, also zu Fuß, mit dem Rad, oder mit dem öffentlichen Verkehr zurück. In den beiden anderen Bundesländern waren es nur rund ein Viertel. Im Detail zeigt sich, dass auch in Wien der Anteil der FußgängerInnen am Arbeitsweg um 70 Prozent zurückgegangen ist. Der wahr gewordene Traum von der autogerechten Stadt hätte statt 290.000 fast 450.000 Wiener AutopendlerInnen bedeutet. Mit all seinen negativen Folgen wie Lärm und Luftverschmutzung. Aber nicht alle sind aufs Auto umgestiegen. Besonders hohe Zuwächse hatten Busse mit plus 59 Prozent und Fahrrad (inkl. sonstiges) mit plus 170 Prozent. Die arbeitsbedingte Mobilität der WienerInnen manifestiert sich offenbar verkehrlich anders als im Umland. Offenbar wird ein geringfügig höherer Zeitaufwand akzeptiert, wenn das Gesamtpaket passt, die Arbeitswege also kostengünstig und bequem zurückgelegt werden können. Zudem bedeutet mehr Umweltverbund auch eine höhere Lebensqualität im Wohnumfeld.

Die Lösung sehen viele, so auch die EU-Kommission, in mehr Wettbewerb. Nicht nur im Verkehrssystem, sondern auch in der Arbeitswelt 4.0. Wer allerdings hauptsächlich die Wettbewerbsorientierung im Blick hat, vergisst darauf, dass auch klimapolitische und verkehrspolitische Herausforderungen zu meistern sind. Vor allem aber müssen soziale Ziele im Fokus stehen. Der Ausbau des Umweltverbunds entlastet die privaten und öffentlichen Haushalte auf ganzer Linie. Denn multimodale Arbeitswege sind kostengünstiger, führen zu einer faireren Nutzung des öffentlichen Raums und machen auch das Wohnumfeld attraktiver. Derzeit arbeiten Bund und Länder an einem österreichweiten Grundangebot für den öffentlichen Verkehr. Auch Arbeitgeber erkennen immer mehr, dass billige Betriebsstandorte nichts wert sind, wenn sie gleichzeitig mit dem Umweltverbund für Arbeitskräfte nicht erreichbar sind. Die AK setzt sich dafür ein, dass sich das Angebot des öffentlichen Verkehrs an den Bedürfnissen der ArbeitnehmerInnen orientiert. Ebenfalls auf der Agenda stehen der Ausbau des öffentlichen Verkehrs und bessere Rahmenbedingungen für das zu Fuß gehen und das Rad fahren.