Kommentar: Europa in Geiselhaft
Die USA werden von uns Europäern oft mitleidig belächelt, wenn wieder einmal von deren laschen Waffengesetzen die Rede ist. Letztlich ist der Zusammenhang zwischen Waffenbesitz und hohen Todesraten durch deren Gebrauch offensichtlich. In den Staaten werden die Gesetze aber keinesfalls geändert, zu sehr steht der halbe Kontinent und fast die gesamte Politik unter dem Einfluss der mächtigen Waffenlobby NRA (National RifleAssociation).
Spätestens seit dem sogenannten Dieselskandal können die US-Amerikaner aber ebenso mild nach Europa zurücklächeln. Denn seitdem wird offenbar, dass sich auch Europa in den Krallen einer mächtigen Lobbyorganisation befindet, zwar nicht der NRA sondern der ACEA, dem Europäischen Verband der Automobilkonstrukteure. Auch dieser verhindert sehr erfolgreich schärfere Bestimmungen. Anders wäre es nicht zu erklären, dass statt hoher Strafen und Fahrzeugnachrüstungen – wie sie in den USA selbstverständlich sind – nur Alibimaßnahmen als Reaktion auf den Dieselskandal gesetzt werden. Viele politische Aktionen, etwa die Ankündigung der deutschen Kanzlerin, die Grenzwerte für Schadstoffe zu Gunsten stark emittierender Fahrzeuge nach oben verändern zu wollen, leiten gegenteilige Schritte ein und spiegeln alleine die Interessen der Industrie und deren Manager wider. Dies vor dem Hintergrund, dass eine Studie der „Environmental Health Analytics“ aus Washington zu dem Schluss kommt, dass alleine 2015 rund 38.000 Menschen wegen nicht eingehaltener Abgasgrenzwerte bei Dieselfahrzeugen vorzeitig verstorben sind. Fortan sollen in den Städten offensichtlich nur noch die Motoren, nicht aber die Bewohnerinnen und Bewohner durchatmen können, ein effektiver Schutz vor NOx oder Feinstaub ist nicht auf der politischen Agenda.
Bevor wir Europäer wieder einmal die Amerikaner und ihr eigentümliches Verhältnis zu Waffen anprangern, sind wir gut beraten, lieber vor unseren eigenen Autotür zu kehren, Feinstaub gibt es dort im Übermaß.