Politik
EU-Klimapolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Mitte November 2025 wurde auf der Weltklimakonferenz in Belém, Brasilien, wieder verhandelt. Erneut stellen sich die Delegierten aus aller Welt die Frage, wie die sich zuspitzende Klimakrise eingedämmt werden kann. Die Ausgangslage für den in die Defensive geratenen Klimaschutz ist denkbar schwierig: China, der mit Abstand größte CO2-Emittent im Jahr 2024, verkündete überraschend eine Reduktion des Treibhausgasausstoßes bis 2035 um 7–10 Prozent. Die USA, der zweitgrößte Emittent, sind hingegen unter Präsident Trump zum zweiten Mal aus dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen. Entgegen der einhelligen wissenschaftlichen Evidenz bezeichnet der US-Präsident den „Climate Change“ als grünen Betrug. Angesichts dieser globalen Gemengelage wird auch die europäische Klimapolitik heiß diskutiert.
In der Europäischen Union besteht Einigkeit darüber, am Ziel festzuhalten, bis 2050 klimaneutral zu werden. Dieses Bekenntnis ist zentral, denn bereits für das Jahr 2025 wurde ein globaler Temperaturanstieg von 1,48 Grad berechnet. In der hitzigen Diskussion über die Erreichung der Klimaneutralität gibt sich EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen als Verfechterin eines strengen Kurses, den manche EU-Mitgliedsstaaten aufweichen wollen. Gleichzeitig untergräbt die EU-Kommission in der internationalen Handels- und Investitionspolitik, in der ihr eine starke Rolle zukommt, die Klimaziele massiv.
Klimaschädliches Mercosur-Abkommen
Ein augenscheinliches Beispiel für das Hintanstellen einer effektiven Klimaschutzpolitik in der Handelspolitik ist das EU-Mercosur-Abkommen, das jetzt mit den lateinamerikanischen Ländern Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay abgeschlossen werden soll. Insgesamt befeuert der Welthandel die Klimakrise auf mehreren Ebenen: Direkt durch transportbedingte Emissionen aus dem internationalen Frachtverkehr, insbesondere der Schifffahrt, die bereits sieben Prozent der globalen CO2-Emissionen betragen. Zudem begünstigen Handelsabkommen die Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigeren Umweltstandards. Güter, die im Globalen Süden produziert werden, haben in der Regel eine höhere Emissionsintensität als jene aus dem Norden, wo sauberere Energiequellen und bessere Technologien eingesetzt werden können. Selbst bei gleich bleibender Produktionsmenge steigen somit die Emissionen durch Produktionsverlagerungen.
Handelsabkommen dienen jedoch dazu, die Handelstätigkeit auszuweiten. Dadurch werden Emissionen etwa im brasilianischen Agrobusiness ansteigen. In Lateinamerika erfolgt die exportbedingte Ausweitung der Produktionsflächen für Rindfleisch und Soja durch Eingriffe in wertvolle Ökosysteme, was beispielsweise zu Entwaldung führt. Ebenso nehmen Landkonflikte mit der indigenen Bevölkerung zu, die seit Jahrhunderten zum Erhalt des Regenwaldes beigetragen hat. All dies hat klimaschädliche Konsequenzen, weil wertvolle CO2-Senken verloren gehen.
Sanktionen bei zu viel Nachhaltigkeit?
Um Kritiker:innen zu besänftigen, wurde im Zuge der Verhandlungen eine Bestimmung zum gutgläubigen Verbleib im Pariser Abkommen in das Mercosur-Abkommen aufgenommen. Damit sind aber keine verbindlichen Dekarbonisierungsziele verbunden, weshalb die Bestimmung weitgehend symbolischen Charakter hat. Zusätzlich dient ein – nicht sanktionierbares – Nachhaltigkeitskapitel als Feigenblatt. Nachdem der argentinische Präsident Javier Milei Anfang des Jahres bereits laut über einen Rückzug aus dem Pariser Abkommen nachgedacht und das Budget des Umweltministeriums halbiert hatte, stellte die EU-Kommission klar, dass sie nur bei einem formalen Ausstieg Argentiniens aus dem Pariser Abkommen den Handelspakt aussetzen würde. Besorgniserregend ist zudem ein neuer „Ausgleichsmechanismus“, der den Handlungsspielraum der EU bei Umwelt- und Sozialvorschriften schwächen kann. Er ist als Replik auf wichtige europäische Nachhaltigkeitsvorschriften wie die Entwaldungsverordnung, die Lieferkettenrichtlinie oder den EU-Klimazoll zu sehen. Der Ausgleichsmechanismus ermöglicht einer Vertragspartei, auf Kompensation zu klagen, wenn sie der Meinung ist, dass durch Maßnahmen eines Landes die Vertragsvorteile des EU-Mercosur-Abkommens zunichtegemacht werden. Anstelle der von Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft geforderten Möglichkeit zur Sanktionierung bei Verstößen gegen Menschenrechte und Umweltstandards droht nun das Gegenteil: die Möglichkeit zur Sanktionierung von Nachhaltigkeitsregeln.
Studien belegen, dass das EU-Mercosur-Abkommen zu einem Anstieg der Treibhausgasemissionen – insbesondere in den Mercosur-Ländern – führen wird. In seinem historischen Klimasenior:innen-Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass Treibhausgasemissionen, die durch die Einfuhr von Produkten entstehen, dem importierenden Land zuzurechnen sind. Das wirft die Frage auf, wie die EU (die sich zur Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet hat) und ihre Mitgliedsstaaten gedenken, diese zusätzlichen Emissionen auszugleichen. Dazu ist die EU bislang eine Antwort schuldig geblieben.
Investitionsschutzabkommen unterminieren Klimaschutz
Ein zweites Beispiel für das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit ist die internationale Investitionsschutzpolitik der EU in Form von Investitionsschutzabkommen mit Drittstaaten (siehe Infokasten). Die in diesen Abkommen enthaltenen Sonderrechte für Investor:innen sind so formuliert, dass in der Praxis fossile Investor:innen gegen neue Klimaschutzgesetze vorgehen können, die ihre künftigen Gewinnerwartungen beeinträchtigen. Die vor internationalen Sondergerichten erwirkten Schiedssprüche sind bindend und können weltweit vollstreckt werden. Bis Ende 2024 sind 249 Investor-Staat-Schiedsverfahren (ISDS) in Bezug auf fossile Investitionen eingebracht worden.
Das ISDS ist somit zu einem mächtigen Werkzeug geworden. Wenn Staaten Maßnahmen zum Ausstieg aus fossilen Energieträgern ergreifen, können getätigte Investitionen zu sogenannten „stranded assets“, also gestrandeten Vermögenswerten, werden. Mit ISDS versuchen Investor:innen, ihre fossilen Modelle so lange wie möglich weiterzubetreiben beziehungsweise sich das Ende dieser Modelle durch die Steuerzahler:innen teuer abgelten zu lassen. So wurden die Niederlande in Milliardenhöhe verklagt, weil sie ein Gesetz zum Ende der Kohleverstromung bis 2030 erlassen haben, und jüngst, weil das größte niederländische Erdgasfeld in Groningen wegen der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Gesundheit geschlossen wurde. Italien wurde 2022 von einem Schiedsgericht zur Zahlung von 240 Millionen Euro verurteilt, weil es dem britischen Konzern Rockhopper Ölbohrungen vor der italienischen Küste verboten hatte, die zugesprochene Summe entspricht dem Sechsfachen der von Rockhopper getätigten Investitionen. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz nennt dies „Litigationsterrorismus“.
Keine Besserung in Sicht
Seit den 1990er und frühen 2000er Jahren haben die 27 EU-Mitgliedsstaaten insgesamt über 1.100 dieser problematischen Abkommen abgeschlossen. Seit 2009 ist die EU dafür zuständig und verhandelt neue Abkommen. Bis dato wurden vier EU-Investitionsschutzabkommen fertig verhandelt. Neben dem hochumstrittenen CETA-Abkommen mit Kanada sind dies die weniger bekannten Abkommen mit Chile, Singapur und Vietnam. Alle vier sollen – trotz breiter Kritik am ISDS-System – von den EU-Mitgliedsstaaten ratifiziert werden. Zwar gibt es Konsens darüber, dass die „alten“ Abkommen der EU-Mitgliedsstaaten aufgrund ihrer ausufernden Sonderrechte und der intransparenten Sondergerichtsbarkeit dringend reformiert werden müssen, doch passiert ist bisher wenig. Die „neuen“ EU-Investitionsschutzabkommen unterscheiden sich von den alten lediglich dadurch, dass gewisse Vorsichtsmaßnahmen zur Einhegung der wildesten Auswüchse dieser Sonderrechte vorgesehen sind. Das ISDS-System an sich wurde jedoch von der EU-Kommission nie infrage gestellt. Verpflichtungen von Investor:innen zur Einhaltung grundlegender Standards im Klimaschutz oder bei Menschenrechten sucht man im Übrigen vergeblich. Damit schweben Investitionsschutzabkommen weiterhin wie ein Damoklesschwert über der Einführung notwendiger Klimaschutzgesetzgebung durch Staaten und behindern eine effektive Klimaschutzpolitik. Mehr noch, wenn Staaten – wie im Falle Italiens – wegen gesetzter Maßnahmen verurteilt werden, müssen sie auf Kosten der Steuerzahler:innen Millionenbeträge an Schadenersatz zahlen, die für Investitionen in eine klimagerechte Zukunft fehlen.
Fazit
Klimapolitik ist weltweit in der Defensive. Zwar hält die im ständigen Krisenmodus operierende EU in der laufenden Legislaturperiode grundsätzlich am Erreichen der Klimaziele fest, ordnet diese aber klar ihrem Megathema, der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, unter. Damit versucht die EU einmal mehr, sich aus den Krisen herauszuwachsen. Die Handels- und Investitionsschutzpolitik steht beispielhaft dafür, wie die Partikularinteressen jener Konzerne aus den Bereichen Automobil, Maschinenbau und Chemie durchgesetzt werden, die stark auf Export ausgerichtet sind. Es zeigt sich, dass dies unter ökologisch äußerst destruktiven Bedingungen geschieht und die Klimakrise weiter verschärft. Die Interessen der Allgemeinheit an wirksamem Klimaschutz bleiben dabei auf der Strecke. Um die laute Kritik der Zivilgesellschaft an der einseitigen Ausrichtung der Abkommen abzumildern, nimmt die EU zwar Bestimmungen zu Nachhaltigkeit in die Abkommen auf, stellt die Priorisierung der Wirtschaftsinteressen dadurch aber nicht in Frage. Um die ökonomisch-ökologische Zangenkrise zu bewältigen, braucht es mehr. Ernsthafte Klimapolitik erfordert mutige und tiefgreifende Reformen unserer Handels-, Investitions- und insbesondere auch Wirtschaftspolitik, die unter breiter demokratischer Teilhabe erarbeitet werden müssen.
