Betrieb

Legale Ausbeutung vor der Haustüre

Die wirtschaftlichen Verflechtungen innerhalb des Binnenmarktes und geänderte Produktionsmethoden und KundInnenwünsche machen Europa von einem effizienten und billigen Verkehr abhängig. Der Sektor Verkehr erzeugt rund fünf Prozent  des EU-Bruttoinlandsproduktes und beschäftigt rund elf Millionen Personen. Unternehmen versuchen, beim Transport Kosteneinsparungen vorzunehmen. Möglichkeiten der Einsparung gibt es nur bedingt, letztlich sind die Kosten für Fahrzeuge,  Infrastruktur (Maut) und  Treibstoff für alle Anbieter nahezu ident. Einige der verbliebenen wichtigsten „Stellschrauben“ sind, neben einer verbesserten Logistik, die Personalkosten, die von Verkehrsträger zu Verkehrsträger variieren. Sie stellen aber immer einen bedeutenden Kostenfaktor dar. Branchenanalysen der AK zeigen, dass der Personalaufwand bei der Bahn und im Straßengüterverkehr bis zu einem Viertel betragen kann. Bei Personalfragen (Einsatzbedingungen, Löhne) gibt es europaweit keine klaren Regelungen bzw. sind diese schwer durchsetzbar.

Keine soziale Harmonisierung

Die Vollendung des Verkehrsbinnenmarktes ging nicht mit einer  sozialen Harmonisierung der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einher. In vielen Fällen greifen Regelungen, etwa die Entsenderichtlinie, nicht ausreichend, da sie den Anforderungen des Verkehrs nicht gerecht werden. Fragen nach dem zu zahlenden Lohn, den Einsatzbedingungen, der sozialen Absicherung oder des ArbeitnehmerInnenschutzes sind, wegen der zahlreichen Grenzübertritte der Beschäftigten innerhalb nur weniger Stunden, oft nur schwer beantwortbar. Gefinkelte Unternehmenskonstruktionen tragen das ihre dazu bei, die Situation unübersichtlich zu halten. Bei gleichbleibender Unternehmenstätigkeit werden über Briefkastenfirmen und Tochterunternehmen sowohl Fahrzeuge als auch  Beschäftigte, oft völlig legal, in Länder verlagert, in denen das Steuer-, Lohn-, und das Niveau des ArbeitnehmerInnenschutzes Vorteile bringt.

Abgesehen von den Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr werden soziale Bestimmungen (Ausbildung, Einsatzbedingungen, soziale Absicherungen, Entlohnung) im Verkehrsbereich vielfach nicht bzw. nur marginal überprüft. Eine Mindestkontrollrichtlinie gibt es nur im Straßenverkehr.

Jenseitige Zustände

Dieser unkontrollierte Graubereich kann dazu führen, dass einige Unternehmen, oftmals völlig legal, Druck auf ArbeitnehmerInnen ausüben. Ein entsprechender Bericht der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) – „Moderne Sklaverei im heutigen Europa? Bericht der ETF über die Arbeits- und Lebensbedingungen von Berufskraftfahrern in Europa“ (Brüssel 2012) – und eine Studie des Europäischen Parlaments (EP) – „Die sozialen und Arbeitsbedingungen von Güterkraftverkehrsunternehmern (Brüssel 2013) – haben schon vor Jahren aufgezeigt, dass der Druck auf die Beschäftigten nicht mehr vertretbare Ausmaße annimmt.

Beiden Dokumenten zur Folge stammen die ArbeitnehmerInnen im Straßengüterverkehr häufig aus osteuropäischen Ländern. Sie werden eigens mit Reisebussen „in den Westen“ zum Lkw gebracht. Dort verbleiben sie zwei bis drei Monate, bevor sie wieder für einige Tage in ihre Heimat zurückgebracht werden.

Das durchschnittliche feste Monatsgehalt, also jener Betrag, von dem Pensions- und Sozialleistungen berechnet werden, liegt für osteuropäische FahrerInnen zwischen 250 und 450 Euro. Daraus ergeben sich mögliche Pensionsansprüche und der Steuerrückfluss für die EU-Mitgliedstaaten. Hinzu kommen sogenannte Tagegelder von rund 40 bis 45 Euro. Bei tagelangem Warten auf Fracht, gibt es kein Tagegeld. Zum Teil werden FahrerInnen auch völlig illegal nach Kilometerleistung bzw. nach Fuhren bezahlt.

Laut ETF verbringen 95 Prozent der FahrerInnen  selbst ihre Pausen und Ruhezeiten, ebenso wie – illegaler Weise – die Wochenenden im Lkw. Zum Teil, so hat es das EP festgestellt, „biwakieren“ sie an den Wochenenden bzw. leben in improvisierten Unterkünften. Viele der Rastplätze verfügen nur über einfache Toilettenanlagen und über keine adäquaten sanitären Einrichtungen. Reguläre Parkplätze sind, ebenso wie die dort befindlichen Einrichtungen (Restauration, sanitäre Anlagen) qualitativ schlecht und viel zu teuer. Oftmals sind Parkplätze schlicht überfüllt und nicht nutzbar. In der Studie des EP gaben 9,4 Prozent der Befragten an, „mindestens ein Mal“ Opfer eines Angriffs gewesen zu sein, 5,6 Prozent erklärten, dass sie „mehr als ein Mal“ angegriffen worden seien.

Laut ETF-Bericht bereiten 80 Prozent ihre Mahlzeit im Lkw zu, wobei nur ein Viertel  davon zwei- bis dreimal in der Woche eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Je zehn Prozent können nur am Wochenende bzw. nie „warm“ essen.

60 Prozent der  ETF-Befragten waren zwischen  zwei und zwölf Wochen von zu Hause entfernt. FahrerInnen arbeiten lange, durchschnittlich  11,5 Stunden täglich, bzw. 57,5 Stunden wöchentlich. Entsprechend gaben 46 Prozent an, dass sie müde sind und sogar 80 Prozent, dass Erschöpfung ein Problem sei. Überstunden werden laut EP-Studie zu 67 Prozent schlicht nicht bezahlt, fallen aber bei 42 Prozent der FahrerInnen an.

Andere Verkehrsträger

Gegenüber anderen Verkehrsträgern sind die Zustände im Straßenverkehr hinsichtlich der oben angeschnittenen Problemfelder sicherlich „schlimmer“. Die Beschäftigten anderer Branchen kommen aber ebenfalls zusehends unter Druck. So stehen die Einsatzdauer, die Ausstattung der Kabinen und die Entlohnungspraktiken in der Binnenschifffahrt der Straße um nichts nach. Gleichermaßen sind die Einsatzbedingungen der LokführerInnen durch zahlreiche Probleme geprägt. Anders als im Straßenverkehr gibt es keine Möglichkeit der Kontrolle der Lenk- und Ruhezeiten, da ein Fahrtenschreiber fehlt. Geleis-tete Arbeitszeiten gehen mit jedem Grenzübertritt einfach „verloren“. Eine rasche und effiziente Kontrollmöglichkeit, auch im Interesse der Eisenbahnsicherheit, gibt es ebensowenig wie klare Richtlinien für den technischen Zustand der Waggons. Auch Selbstverständlichkeiten sind auf der Schiene inexistent: so kann es passieren, dass TriebfahrzeugführerInnen nach einer mehrstündigen Schicht auf einem Verschubgleis im „Nirgendwo“ ihren Endbahnhof haben, bei dem es weder Nächtigungsmöglichkeiten noch Toiletten und Waschmöglichkeiten gibt. Lokomotiven dürfen immer noch ohne WC-Zelle in Betrieb genommen werden.

Dumping mit System

Die angeführten Beispiele und die hohe Betroffenheit in der Verkehrsbranche zeigen eines deutlich: Hier wird systematisches Dumping auf dem Rücken der Beschäftigten betrieben. Klar ist auch, dass diese Zustände seit Jahren bekannt sind und dennoch keine effizienten Schritte gesetzt werden. Zum Teil erfolgt dies völlig legal unter Billigung der EU-Gesetzgebung, allen voran der EU-Kommission, die in zahlreichen Rechtsakten berechtigte ArbeitnehmerInneninteressen ignoriert. Beispielhaft wird etwa auf den kürzlich erfolgten Beschluss einer Liste von schweren Verstöße im Straßenverkehr (siehe Kasten Seite 25) verwiesen.

Grenzüberschreitendes Sozialdumping ist einerseits eine Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt und das reibungslose Funktionieren der ArbeitnehmerInnen-Freizügigkeit. Die Praktiken des Sozialdumpings stellen andererseits auch für gesetzestreue Unternehmen und  Betriebe, die soziale Errungenschaften nicht als Nachteil empfinden, ein Problem dar: sie werden ausgebootet. Nationale Versicherungs- und Steuersysteme verlieren Einnahmen und werden ernsthaft untergraben. Letztlich geht Sozialdumping auch zu Lasten der Verkehrssicherheit.

Der Verkehrssektor zeigt deutlich, dass die EU weit von sozialer Kohärenz entfernt ist. Nicht alle ArbeitnehmerInnen haben innerhalb der EU das gleiche Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen, obwohl dies die rechtsverbindliche Charta der Grundrechte der EU so vorsieht. Mit „Schande“ ist die Unionspolitik noch freundlich umschrieben. ¨