Schwerpunkt
Gutes Leben für alle
Zurück zur besseren Zukunft: Gutes Leben für alle
Kritischen BeobachterInnen zufolge stecken die europäischen Gesellschaften in einer multiplen Krise. Neben der ökologischen Krise, die sich an manchen Folgen des Klimawandels bereits heute zeigt, verschärften sich in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise auch die Beschäftigungs- und Verteilungskrise. Europa ist damit in einem ebenso multiplen politischen Dilemma: Zur Lösung der sozialen Krise(n) setzen viele weiterhin ihre Hoffnung auf ein „Wiederanspringen“ des europäischen Wirtschaftswachstums. Trotz der Hoffnungen auf die Entkopplung vom Ressourcenverbrauch scheint das aber weiterhin zur Verschärfung der ökologischen Krise beizutragen. Und selbst die Verteilungs- und Beschäftigungskrisen werden im Unterschied zu den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg in einem der Tendenz nach neoliberalen politisch-ökonomischen Rahmenwerk durch Wachstum kaum entschärft. Im jüngst erschienenen Bericht „In it together – Why less inequality benefits all“ zeigt die OECD, dass die in den letzten 30 Jahren zu beobachtende Polarisierung von Einkommen und Vermögen in den meisten ihrer Mitgliedstaaten nicht nur die Teilhabemöglichkeiten der einkommensschwächeren Haushalte, sondern auch die Wachstumschancen der Volkswirtschaften massiv dämpfen.
Neue Allianzen
Vor diesem Hintergrund formieren sich neue Allianzen, die eine umfassende Reorganisation der Wirtschaft im Sinne eines guten Lebens für alle fordern. Trotz einer gewissen Spannbreite an Visionen ist diesen Bewegungen gemeinsam, dass sie die ökologische Frage nicht mehr ohne die soziale denken wollen. Im Februar 2015 kam an der Wirtschaftsuniversität Wien eine breite Allianz aus sozialen Bewegungen, zivilgesellschaftlichen Initiativen, Forschungsinstitutionen, Entwicklungsorganisationen und Arbeitnehmervertretungen zusammen, um mit der interessierten Öffentlichkeit Dimensionen eines I auszuloten (siehe Interview Seite 21).
Bereits im Dezember 2012 veranstaltete die IG Metall in Berlin einen großen Kongress zum Thema „Kurswechsel für ein gutes Leben“, bei dem „ein neuer Fortschrittsbegriff für Industriegesellschaften und alternative Entwicklungspfade“ diskutiert werden sollten. Und im letzten Jahr wählte eine Kooperation aus AK Wien, Grüner Bildungswerkstatt, Attac, BEIGEWUM, u.a. den Titel der Berliner Tagung für eine Veranstaltungsreihe und eine Sonderausgabe der Zeitschrift „Kurswechsel“.
Das gute Leben steht damit in einem Zusammenhang mit ähnlichen Vorstellungen einer erstrebenswerten Zukunft, wie sie von der – stärker akademisch verankerten – Postwachstumsbewegung oder den ProponentInnen einer sozial-ökologischen Transformation vertreten werden. Der Reiz der Diskussion ist, dass sie nicht primär vor den biophysikalischen Grenzen unserer Lebensweise warnt, sondern die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse ins Zentrum rückt. Damit grenzt sie sich auch von der Diskussion zu „Green Growth“ ab, die zur Entschärfung der ökologischen Krise auf eine Erhöhung der Ressourcenproduktivität durch technologische Innovation setzt, aber die sozialen Voraussetzungen unserer Produktions- und Wirtschaftsweise kaum thematisiert. Der Diskurs zum guten Leben entwirft Bilder einer solidarischen Gesellschaft, in der das vorrangige Ziel der Politik die Erhöhung der Lebensqualität aller ist. Mit der Sorge um Umwelt- und Klimaschutz soll gleichsam die Hoffnung auf eine menschenwürdigere Zukunft reaktiviert werden.
Entfaltung statt Wachstum
Verglichen mit den europäischen Nachkriegsjahrzehnten geht es heute um ein breiteres Verständnis von gesellschaftlicher Wohlfahrt. Nach der Sättigung der wichtigsten Konsumbedürfnisse breiter Teile der westlichen Gesellschaften kamen neue Debatten auf, wie sich gesellschaftliche Wohlfahrt messen lässt (siehe Kasten Seite 13) und was ein gutes Leben ausmacht. Die US-amerikanische Sozialphilosophin Martha Nussbaum beschäftigte sich bereits in den 1980er Jahren unter Berufung auf Aristoteles mit den menschlichen Grundfähigkeiten, die es im Sinne einer Ethik des guten Lebens zu entwickeln gilt. Dazu zählt sie neben guter Gesundheit, einer angemessenen Unterkunft und Ernährung u.a. auch die Entwicklung eigener Vorstellungen von einem guten Leben (Beruf, politische Teilhabe), die schöpferische Entfaltung der eigenen Phantasie, den Aufbau emotionaler und bedeutender Beziehungen zu Mitmenschen sowie die Verbundenheit mit der Natur. Die individuellen Möglichkeiten sind dabei sowohl von inneren Bedingungen – insbesondere der nötigen Bildung des eigenen Geistes und Charakters – als auch von externen Voraussetzungen – also dem Zugang zu wertvollen gesellschaftlichen Gütern – abhängig.Ökonomie des guten Lebens
Die „Ökonomie des guten Lebens“ wurde zuletzt vom Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky und seinem Sohn Edward in ihrem vielbeachteten Plädoyer gegen Wachstum um jeden Preis am detailliertesten ausformuliert. Am Beginn ihrer Argumentation steht eine Vision, die John Maynard Keynes, einer der prägendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, bereits 1930 zu Papier brachte. Demnach würde bereits die Generation seiner Enkelkinder durch den technologischen Fortschritt in einem materiellen Wohlstand leben, der eine massive Reduktion der notwendigen Arbeitszeit ermöglichen und damit Zeit für Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit schaffen würde. Trotz der tatsächlich erfolgten Wohlstandsmehrung im Laufe des 20. Jahrhunderts scheinen aber zwei Faktoren zu verhindern, dass die westlichen Gesellschaften diese Chance auch erkennen: Einerseits wurden die Menschen im Laufe der kapitalistischen Entwicklung an die vermeintliche Unersättlichkeit ihrer Konsumbedürfnisse gewöhnt. Andererseits schließt die Ungleichverteilung des Wohlstands breite Teile der Bevölkerung weiterhin von einer dem europäischen Entwicklungsstand angemessenen Teilhabe am Konsum aus.
Die Skidelskys möchten nun die Wirtschaftswissenschaften als moralische Instanz reanimieren. Dem von der neoklassischen Ökonomie beschworenen Nutzenkonzept, das von der Unendlichkeit individueller Bedürfnisse ausgeht, stellen sie erneut das Konzept der Gebrauchswerte erstrebenswerter Güter gegenüber. Ihnen geht es um die Sensibilisierung der Bevölkerung für die Aspekte des guten Lebens. Im Unterschied zu Nussbaum definieren sie universell gültige Basisgüter, die ihrem Verständnis nach in allen Kulturen für ein gutes menschliches Leben als unverzichtbar gelten, nämlich Gesundheit, Sicherheit, Respekt, Persönlichkeit, Harmonie mit der Natur, Freundschaft und Muße. Die erste Pflicht des Staates sei es, die materiellen Voraussetzungen für die Erreichung dieser Güter zu schaffen sowie eine hinreichende Verteilung des Wohlstands zu gewährleisten; ein wertneutrales (neo)liberales Staatswesen ist dazu offensichtlich nicht in der Lage. Ob der Einzelne dann diese Möglichkeiten nutzt, und wie er mit Zielkonflikten in der Erreichung von Basisgütern umgeht, bleibt hingegen eine individuelle Entscheidung.
Politik des guten Lebens
Die Idee eines guten Lebens für alle impliziert insofern eine radikale Verschiebung des Blickwinkels auf das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft, als die Entwicklung der menschlichen Grundfähigkeiten bzw. der universelle Zugang zu den Basisgütern in den Fokus rücken. Sicherheit erfordert planbare Erwerbsbiographien und langfristig abgesicherte Wohnverhältnisse, Muße ein ausreichendes Maß an Zeitsouveränität, Respekt eine Begegnung auf Augenhöhe. Harmonie mit der Natur setzt den Zugang zu wertvollen Umweltgütern voraus, Gesundheit jenen zu guter Ernährung und Gesundheitsdiensten. Und die Entwicklung einer Lebensplanung, die der eigenen Persönlichkeit entspricht, ist ohne ausreichende Bildung kaum vorstellbar. Eine Gesellschaft, die zunehmend von Arbeitslosigkeit, prekärer Beschäftigung und der Polarisierung von Einkommen und Vermögen gekennzeichnet ist, lässt sich mit diesem Bild schwerlich in Einklang bringen.
Wo aber ist nun anzusetzen? Robert und Edward Skidelsky fordern neben Beschränkungen des internationalen Handels und der Werbung (!) ein bedingungsloses Grundeinkommen sowie (progressive) Steuern auf Konsum, Vermögen, Finanztransaktionen und CO2-Emissionen. Für die IG Metall und die Allianz der Wiener Tagung bilden neben Fragen der Energiewende und der Regulierung der Finanzmärkte vor allem die umfassende Demokratisierung der Produktionsverhältnisse und gute Arbeit für alle Kerne der Überlegungen. In sämtlichen Visionen wird die Notwendigkeit eines handlungsfähigen öffentlichen Sektors betont. Teile der Postwachstumsbewegung setzen daneben viel Hoffnung auf lokale Selbstversorgung. Damit bleibt vorerst noch viel Raum für konkrete Initiativen im Sinne des guten Lebens für alle. ¨