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Industrie & Umwelt

Hinter uns die Industriegesellschaft

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Eine derartige Sichtweise übersieht zweierlei: Erstens ruht die scheinbar entmaterialisierte postindustrielle Gesellschaft auf einem materialintensiven, weitgehend maschinenbetriebenen und ökologisch destruktiven Fundament aus Landwirtschaft, Bergbau und Grundstoffindustrie, das sich teilweise in den Industrie­ländern befindet, teilweise jedoch in den Entwicklungsländern. Zweitens und ebenso wichtig lebt derzeit nur etwa ein Drittel der Weltbevölkerung in hoch entwickelten Industrieregionen. Der Großteil der heute lebenden Menschen befindet sich hingegen mitten in einem Prozess des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft, der an verschiedenen Orten unterschiedlich weit fortgeschritten ist.

Mittlerweile ist andererseits klar, dass der Ressourceneinsatz der Menschheit – ein großer Teil davon entfällt auf die Industrieländer – bereits jetzt die ökologischen Grenzen des Planeten sprengt. Studien zum „globalen ökologischen Fußabdruck“ deuten darauf hin, dass die Menschheit heute etwa ein Viertel mehr Biokapazität konsumiert als auf der Erde vorhanden ist und verändert damit die Biosphäre auf besorgniserregende Weise.

Klimawandel, Degradation von Ökosystemen und Verlust an biologischer Vielfalt haben letztlich eine gemeinsame Ursache: den enormen und stetig steigenden Einsatz natürlicher Ressourcen (Land, Wasser, Materialien, Energie usw.) für die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Stoffwechsels der nach wie vor wachsenden und zunehmend wohlhabenderen Menschheit aufrecht zu erhalten. 

Globale Industrialisierung wird so nicht stattfinden

Eine simple Rechnung macht die Probleme deutlich, die eine globale Industrialisierung nach sich ziehen würde: Im Jahr 2050 werden etwa 8,5 Milliarden Menschen auf der Erde leben; nehmen wir an, der Gesamtenergie-Einsatz pro Kopf würde auf den durchschnittlichen Wert heutiger Industriegesellschaften steigen (etwa 250 Gigajoule pro Person und Jahr), so würde sich der globale Energieumsatz der Menschheit – inklusive Ernährung von Menschen und Nutztieren – insgesamt mehr als verdreifachen, von etwa 600 Exajoule pro Jahr (EJ/a) im Jahr 2000 auf etwas über 2100 EJ/a im Jahr 2050. Der Energieeinsatz der Menschheit wäre dann etwa gleich groß wie die gesamte Menge an Biomasse, die grüne Pflanzen auf der Landoberfläche der Erde pro Jahr durch Photosynthese produzieren.

Die Herausforderung ist gewaltig: Ein Kernenergie-Ausbauprogramm, das geeignet wäre, den Anstieg der Fossilenergienutzung bei einem derartigen Wachstum der Energienachfrage merkbar zu verringern, ist undenkbar. Auch Wasserkraft, Windkraft, Geothermie oder Solarenergie könnten mit einem derartigen Wachstum des Energieeinsatzes wohl kaum Schritt halten, selbst wenn die Potenziale groß genug wären. Viele hoffen auf einen großen Beitrag der Bioenergie – doch gerade hier gibt es gravierende Probleme wie etwa Landnutzungskonkurrenz oder Biodiversitätsverlust; die nachhaltigen Potenziale sind wohl viel kleiner als gedacht. Der Ausbau erneuerbarer, CO2-armer Energie wird daher nicht ausreichen, um bei einer Fortsetzung des Energie-Wachstumspfades eine Trendwende einzuleiten.

Eine Fortsetzung gegenwärtiger Trends hätte aber eine deutliche Beschleunigung des Klimawandels zur Folge. Um den globalen Temperaturanstieg auf 2°C zu begrenzen, müssten die Treibhausgasemissionen bis 2050 weltweit halbiert werden, in den Indus­trieländern um rund 80%. Bis 2100 wäre eine noch viel größere Emissionsreduktion nötig. 

Eine derartige Reduktion der Emissionen wäre jedenfalls nur durch einen Übergang zu einem völlig anderen Energiesystem zu erreichen. Dafür gibt es seit längerem eine große Bandbreite an Visionen, von der Atomenergiegesellschaft über die solare Niedrigenergiegesellschaft bis hin zu Überlegungen, die CO2-Abscheidung massiv auszubauen (CCS). Doch schon bisher wurden derartige Techno-Szenarien nicht einmal in Ansätzen realisiert. Dies dürfte daran liegen, dass die bis dato vorliegenden Konzepte die vielfältigen Zusammenhänge zwischen Energiesystem und Gesellschaft unzureichend berücksichtigen. Ein Radikalumbau der Energiesysteme ist gleichzeitig ein Radikalumbau von Wirtschaft und Gesellschaft.

Öko-Effizienz: Gut, aber nicht gut genug

„Our Common Future“, der Bericht der so genannten Brundtland-Kommission, war wohl auch deshalb ein so großer Erfolg, weil er einen Ausweg aus einer kommunikativen Sackgasse ermöglichte. Statt das Wirtschaftswachstum selbst in Frage zu stellen, postulierte der Brundtland-Report, dass wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, letztlich auch Wirtschaftswachstum, mit einer Erhaltung der ökologischen Lebensgrundlagen vereinbar sind. Der Schlüssel dazu ist die Öko-Effizienz, auch unter dem Schlagwort „Entkopplung“ bekannt. Gemeint ist damit das Ziel, das Wirtschaftswachstum umweltverträglich(er) zu gestalten, indem es vom Wachstum des Ressourcenverbrauchs abgekoppelt wird. Die Verbesserung der Öko-Effizienz – gemessen etwa als Ressourcen- oder Energieverbrauch pro Einheit der Wirtschaftsleistung – ist daher ein Standardelement nahezu aller Strategiepläne zur nachhaltigen Entwicklung.

Natürlich spricht nichts gegen Öko-Effizienz. Es ist mittlerweile möglich, selbst unter mitteleuropäischen Klima­bedingungen Wohngebäude so zu gestalten, dass sie das ganze Jahr ein angenehmes Raumklima bieten, ohne dazu ein aktives Heizungs- oder Kühlungssystem zu benötigen.

Aber Effizienzverbesserungen werden wohl nicht ausreichen, um den Ressourcenverbrauch langfristig absolut zu senken. Der Energieeinsatz pro Wirtschaftsleistung ist weltweit in den letzten 70 Jahren kontinuierlich gesunken. Trotz der erreichten Effizienzgewinne wuchs jedoch der Energieeinsatz in absoluten Zahlen weiter. Auf Grund des Nachholbedarfs der Entwicklungsländer würde er auch dann massiv zunehmen, wenn es gelingen sollte, den Ressourceneinsatz in den Industrieländern zu stabilisieren. Weiters zeigt sich, dass Wirtschaftswachstum nicht unabhängig von der Effizienz der Ressourcennutzung ist – steigende Effizienz kurbelt also das Wirtschaftswachstum an. Mit anderen Worten, eine relative Dematerialisierung scheint mittels einer Politik der Öko-Effizienz realisierbar, die für eine nachhaltige Entwicklung nötige absolute Verringerung des Ressourcenverbrauchs jedoch nicht. Öko-Effizienz reicht auf Grund dieser Wechselwirkungen nicht aus, um eine nachhaltige Entwicklung einzuleiten, obwohl sie ein unverzichtbares Element derartiger Bemühungen darstellt.

Neues Entwicklungsmodell gesucht

Der spanische Wirtschaftshistoriker Joan Martinez-Alier, einer der Gründerväter der Ökologischen Ökonomik, hat eine eindrucksvolle Sammlung von Beispielen für Umweltbewegungen der Armen („environmentalism of the poor“) erstellt. Die Versorgung von Menschen, die in Subsistenzwirtschaften leben, hängt mehr oder weniger vollständig von Leistungen der Ökosysteme (‚ecosystem services’) ab. Für sie ist daher eine Degradation der Ökosysteme viel unmittelbarer bedrohlich als für Menschen in der Industriegesellschaft. Zahllose Beispiele zeigen, dass die ökologischen Lebensgrundlagen von marginalisierten Menschen – oft in den Entwicklungsländern – durch Rohstoffextraktion zur Versorgung der scheinbar sauberen, öko-effizienten StadtbewohnerInnen in den Industrieländern gefährdet werden.

Nötig wäre also ein anderes Entwicklungsmodell, in dem es möglich ist, eine hohe Lebensqualität mit drastisch geringerem Einsatz nicht erneuerbarer bzw. nicht nachhaltiger Ressourcen zu erzielen. Wie dieses aussehen könnte, ist heute sehr schwer vorstellbar. Vermutlich können wir uns eine nachhaltige Gesellschaft ebenso schwer vorstellen wie Menschen im 16. Jahrhundert die heutige Industriegesellschaft. Sozial-ökologische Steuerreformen, die Arbeit ent- und Ressourceneinsatz belasten, wären vermutlich eine sinnvolle Strategie, um Entwicklungen in diese Richtung anzuregen. Nicht nur wegen ihrer unmittelbaren positiven Umwelteffekte auf Grund der durch sie ausgelösten Preiseffekte, sondern auch, weil sie ein starkes kommunikatives Signal darstellen, das Kreativität und Innovationen in eine andere Richtung lenken könnte.

Die Verwendung von menschlicher Lebenszeit ist ein anderes, heute (noch) zu wenig beachtetes Element möglicher Strategien in Richtung Nachhaltigkeit. Mehr Lebensqualität bei weniger materiellem Konsum könnte vielleicht durch eine Senkung der Lebensarbeitszeit erreicht werden – ein Bereich des menschlichen Lebens, der politischer Steuerung zugänglich ist.

Und letztlich ist es notwendig, über gesellschaftliche Institutionen nachzudenken. Die Institutionen heutiger Industriegesellschaften beruhen auf Wirtschaftswachstum – ohne Wachstum gerät die Industriegesellschaft in die Krise. Doch Institutionen sind wandelbar, wenn auch nur sehr langsam. Auch das ist vielleicht eine vage Hoffnung – allerdings auch eine Perspektive, die radikales Infragestellen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse erfordert und darauf hindeutet, dass ein Übergang zur Nachhaltigkeit nur durch drastische Veränderungen des gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, also durch eine neue sozial-ökologische Transformation, erreicht werden kann.

Dieser Artikel erschien in wesentlich ausführlicherer Form in: Eva Maria Herzog, Hans-Christian Bauer, Ulrike Berninger (Hg.). Blickpunkt: Biologische Vielfalt. ÜberLeben im Globalen Wandel. Books on Demand, Norderstedt, 2013, S. 87-110. Die Kürzung besorgte Christoph Streissler in Absprache mit dem Autor.