Wissenschaft: Wer besitzt eigentlich Öffi-Jahreskarten in Wien?

Die Jahreskarte der Wiener Linien um 365 bzw. 396 Euro (bei monatlicher Abbuchung) ist ein Erfolgsprodukt. So erreichte die Zahl der Öffi-Jahreskarten im Vor-Corona-Jahr 2019 mit 852.000 einen neuen Rekordwert; sie übersteigt die Zahl der zugelassenen Pkw in Wien schon seit längerem. Die Erfahrung zeigt: Wer eine Jahreskarte besitzt, nutzt sie auch intensiv. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, damit sich Menschen die Karte kaufen? In einem gemeinsamen Projekt ließen die Wiener Linien und die AK Wien vom Institut für Verkehrswesen der Boku Wien untersuchen, wie diese Stammkund:innen „ticken“.

Um die Faktoren und Umstände zum Kauf einer Jahreskarte zu erkennen, wurden die Wohngebiete der Jahreskartenbesitzer:innen mit anderen verfügbaren sozioökonomischen Daten (z.B. Altersstruktur, Bildung, Einkommen, Haushaltsgröße usw.) in Beziehung gesetzt; alles unter strenger Wahrung des Datenschutzes. Der offensichtlichste Zusammenhang ist jener zwischen Jahreskartenbesitz und Qualität der Öffi-Anbindung der jeweiligen Wohnadresse. Das war vorhersehbar, daher sind Abweichungen von dieser Korrelation besonders interessant und informativ. 

Wer sehr oft oder selten Jahreskarten kauft 

So beobachtet die AK seit Jahren, dass die Anzahl ihrer aus Wien auspendelnden Mitglieder stärker wächst als jene der Einpendler:innen. Bekanntermaßen verlagern zahlreiche Unternehmen ihre Geschäftstätigkeit von der Stadt in das Wiener Umland. Gründe dafür sind billige Grundstücke, großzügige Förderungen, ausreichend Platz für Erweiterungen und weniger Probleme mit Anrainer:innen. Altgediente Beschäftigte sind häufig gezwungen, ihrem bisherigen Arbeitsplatz „hinterherzufahren“. Die Studie zeigt, dass Auspendler:innen seltener über Jahreskarten verfügen, als es durch ihre Wohnadresse zu erwarten wäre. Offenbar macht eine schlechte ÖV-Anbindung des neuen Arbeitsortes, bei gleichzeitig hoher Verfügbarkeit von Parkplätzen, die Jahreskarte unattraktiver.

Eine überraschende Erkenntnis ist, dass mit dem Bildungsniveau der Absatz von Jahreskarten ansteigt. Auch hier sind die Ursachen meist in der Art des Arbeitsplatzes zu finden. Die Jobs von Menschen mit geringerer formaler Bildung sind weniger gut mit Öffis erreichbar (Fachmarktzentren, Gewerbegebiete), was sowohl an der Lage als auch den Arbeitszeiten liegen kann. Dass Einpersonenhaushalten überdurchschnittlich häufig über Jahreskarten verfügen, hat seine Ursache wohl darin, dass man allein nur schwer die hohen Pkw-Kosten stemmen kann.

Jahreskartenbesitz in Wien – Abweichung zwischen Ist-Zustand und Prognose

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Die roten Zellen bedeuten, dass die Öffi-Qualität einen höheren Anteil an Jahreskartenbesitzer:innen vermuten lassen würde, als es tatsächlich der Fall ist. Bei den blauen Zellen ist der Jahreskartenbesitz größer, als es zu erwarten wäre. Dort wohnen also besonders ÖV-affine Personen

„Transdanubien“ ist anders

Die Forscher:innen der Boku haben auch Transdanubien – also den 21. und 22. Bezirk – als  „Problemzone“ identifiziert. Dort besitzen weniger Bewohner:innen eine Jahreskarte, als es die Anbindung ihrer Wohnadressen erwarten lässt. Dafür gibt es gleich einen ganzen Strauß an Erklärungen: So herrscht die weit verbreitete Erzählung vor, dass man in diesen beiden Bezirken unbedingt ein Auto benötigt. Das trifft besonders bei Jungfamilien zu. Dies wird noch durch die große Anzahl an Parkplätzen unterstützt. Weiters sind die Verbindungen innerhalb bzw. zwischen Floridsdorf und Donaustadt nicht die besten; weder bezüglich Öffis, noch bei Radwegen. Viele „Alteingesessene“ wiederum sind so an den eigenen Pkw gewöhnt, dass auch eine neu errichtete U- oder Straßenbahnlinie ihre langjährigen Gewohnheiten nicht ändern kann. Hier ist also die Stadt Wien gefordert, einerseits durch gezielte und rasche Verbesserungen bei den Öffis (z.B. neue Straßenbahnlinien und Schnellbusse) und den Radwegen, als auch durch geeignete Marketingmaßnahmen den Umweltverbund zu stärken und den Verkauf von Jahreskarten in Transdanubien anzukurbeln.

Zwar sind die Wiener:innen zu 38 Prozent (Bezugsjahr 2019) mit den Öffis unterwegs. Dieser Wert ist beachtlich hoch, stagniert aber seit Jahren. Dass liegt daran, dass speziell in den Außenbezirken die Attraktivität des Autos ungebrochen hoch ist. Die Ergebnisse der Studie verhelfen zu neuen Erkenntnissen, die man für eine echte Mobilitätswende dringend benötigt. Klimakrise und hohe Treibstoffpreise führen derzeit drastisch vor Augen, wie wichtig gute Öffentliche Verkehrsmittel und deren Weiterentwicklung sind. Dies ist auch eine Frage von Mobilitätsgerechtigkeit. Denn diese kann am besten durch flächendeckende und leistbare Öffis gewährleistet werden. Dabei ist verstärkt darauf zu achten, dass sowohl die Wohngebiete, als auch die Arbeitsplätze von ärmeren Menschen gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind. Die Studie zeigt aber auch, dass Unternehmen verstärkt in die Verantwortung genommen werden müssen, ihren Beschäftigten eine saubere Anreise zu ermöglichen 
(= betriebliches Mobilitätsmanagement). Parallel zu den verbesserten Angeboten, muss es auch „Push“-Maßnahmen geben: Dort wo der Öffentliche Verkehr gut ausgebaut ist, muss der (fossile) Autoverkehr eingeschränkt werden. ¨

* Modal Split wird in der Verkehrsstatistik die Verteilung des Transportaufkommens auf verschiedene Verkehrsträger oder Verkehrsmittel (Modi) genannt.