Politik

Hormonell wirksame Substanzen

Bis zu 31 Milliarden Euro Gesundheitskosten pro Jahr könnte die Reduktion von hormonell wirksamen Stoffen in Europa einsparen. Zu diesem Schluss kommt der Bericht der Health and Environment Alliance (HEAL) vom Juni 2014. Bereits 2012 sprach die World Health Organization (WHO) von einer globalen Bedrohung durch die Belastung von Gesundheit und Umwelt durch hormonaktive Stoffe. Aufgrund von Schätzungen mittels Computermodellen wird von über 20.000 Chemikalien mit möglicher hormoneller Wirksamkeit gesprochen. Das sind alarmierende Zahlen. Vor allem, wenn Stoffe und Chemikalien dort hormonell wirksam sind, wo sie es nicht sein sollten. 

In den letzten Jahren haben Krankheiten aufgrund von hormonellen Störungen bei Mensch und Tier stark zugenommen. Im Tierreich werden Verweiblichungen von bestimmten Populationen und damit eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses beobachtet. Beim Menschen werden die Abnahme der Spermienaktivität bei Männern, Brustkrebs, Diabetes, abnorme Genitalentwicklungen und andere vermehrt auftretende Krankheiten mit dem Einfluss von hormonaktiven Chemikalien in Verbindung gebracht. Selbst die steigende Rate von Fettleibigkeit und das häufige Auftreten der Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung (ADHS) könnte laut ToxikologInnen mit dem Einfluss von hormonaktiven Stoffen zu tun haben. 

Laut European Food Safety Authority (EFSA) fehlen derzeit die wissenschaftlichen Grundlagen, um all diese Krankheiten und Störungen mit dem Einfluss von hormonell wirksamen Stoffen in Verbindung zu bringen. Dennoch ist die EU-Kommission schon seit 1996 bemüht, den Einsatz solcher Stoffe zu beschränken. 

Unterschiedlichste Stoffgruppen stehen hinsichtlich der möglichen hormonellen Wirksamkeit bei Mensch und Tier in Diskussion. Laut PAN-Netzwerk (Pesticide Action Network Europe) stehen 43 Pestizide im Verdacht. Das PAN-Netzwerk und Global 2000 haben in einer Studie 2012 potenziell hormonell wirksame Pestizidrückstände in Salat, Tomaten, Gurken und weiteren Obst- und Gemüsesorten im Supermarkt gefunden. 

Verdächtige

Bisphenol A, der Baustein für den Kunststoff Polycarbonat, sorgt seit Jahren für Aufregung. Für Babyflaschen ist dieser Stoff seit 2011 in Europa verboten. Bisphenol A findet auch Verwendung in der Epoxidharzbeschichtung für die Dichtungsfolie, mit der Konserven- und Getränkedosen ausgekleidet werden. Wie eine Studie der AKNÖ 2013 zeigt, enthalten deshalb viele Dosengetränke Bisphenol A. Die Liste findet sich unter http://noe.arbeiterkammer.at, zur Suche „Weichmacher“ eingeben.

Andere Stoffe der Kunststoffindustrie sind auch in Verruf gekommen, hormonell wirksam zu sein. Das sind zum Beispiel Weichmacher für Kunststoffe (Phthalate) oder bestimmte Flammschutzmittel, zum Beispiel bromierte Diphenyle oder Diphenylether. Viele Kosmetikprodukte enthalten in Verdacht stehende hormonaktive Stoffe: UV-Filter, Konservierungsmittel (Parabene), Resorcinol in Haarfärbemitteln, Siloxane in Conditioner und Vergällungsmitteln von Alkohol (Diethylpthalat). 

Antischimmelmittel, wie das vor allem im Schiffbau in Anstrichfarben verwendete Tributylzinn stört das Gleichgewicht vieler Schneckenpopulationen. Ab den 1940er-Jahren war DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) jahrzehntelang das weltweit meistverwendete Insektizid und ist heute nur noch zur Bekämpfung der Malaria-Anophelesmücke zugelassen. DDT wurde vor allem aufgrund der hormonähnlichen Wirkung auf Greifvögel einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Es führt zu dünneren Eierschalen, wodurch die Greifvogel-Populationen nach Einsatz des Insektizids massiv einbrachen. 

Leider ist die Einschätzung der Hormonaktivität nicht immer einfach und oft widersprüchlich, da die entsprechenden analytischen Methoden erst seit kurzem in Erprobung sind. Aufregung gab es um Studien, welche die mögliche hormonelle Wirkung von PET-Flaschen auf Schnecken 2009 bzw. 2010 festgestellt haben. Das Österreichische Forschungsinstitut für Chemie und Technik (OFI) konnte diese hormonaktive Wirkung von PET-Flaschen in einer aktuellen Untersuchung nicht mehr feststellen.  

Pflanzen können natürliche Hormone – die Phytoöstrogene - produzieren. Dazu gehören Isoflavone, die in Kichererbsen, Ölsamen oder Soja enthalten sind. Der vermehrte Verzehr dieser Produkte wird in der Medizin gegen hormonell bedingte Beschwerden in den Wechseljahren verwendet. Die gezielte Möglichkeit der Beeinflussung des Hormonsystems nutzen auch synthetische Medikamente. Das bekannteste Beispiel sind die künstlichen Östrogene der Anti-Baby-Pille, die vom Exil-Österreicher Carl Djerassi und seinem Team in den 1950iger Jahren entwickelt wurde. Wird nicht die gesamte Menge des Wirkstoffs im Körper der Frau umgesetzt, gelangt das künstliche Östrogen Ethinylestradiol über die Ausscheidung ins Abwasser. In der Kläranlage wird es nicht abgebaut und daher von Wasserorganismen aufgenommen. Dies führt zu einer Verweiblichung von Fischen und Fröschen. 

Diethylstilbestrol (DES), wurde in den 1950iger und 1960iger Jahren schwangeren Frauen als Medikament verschrieben, um die Wahrscheinlichkeit einer ungewollten Schwangerschaftsunterbrechung zu verringern. Dies wirkte negativ auf das Hormonsystem der Kinder. Manche Mädchen, deren Mütter dieses Medikament einnahmen, entwickelten Jahre später spezielle Formen von Vaginalkrebs. In den 1970iger Jahren wurde deshalb dieses Medikament verboten.  

Wie dieses Beispiel zeigt, können hormonaktive Stoffe auch erst viel später Auswirkungen zeigen. Große Diskussion in der Wissenschaft gibt es darüber, ab welcher Dosis die chemischen Stoffe hormonell wirksam sind. Natürliche Hormone wirken in sehr kleinen Mengen im Körper. Viele Studien deuten darauf hin, dass synthetische hormonell wirksame Stoffe in ähnlich kleinen Mengen wirken. Als eindeutig wissenschaftlich bewiesen gilt dies nicht.

Unklare Gesetze

Wie werden hormonell wirksame Stoffe gesetzlich reguliert? Einige der möglichen hormonaktiven Stoffe wurden aufgrund von anderen gefährlichen Eigenschaften beschränkt. In der EU-Chemikalienverordnung REACH gilt die hormonelle Wirksamkeit in Artikel 57f als eine mögliche Eigenschaft, um einen Stoff als besonders gefährlichen Stoff zu identifizieren. 

Die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist nur möglich, wenn der Stoff keine hormonelle Wirksamkeit zeigt. Doch um diese zu bestimmen, fehlen die Kriterien. Die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES), welche für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zuständig ist, hilft sich mit der CLP-Verordnung weiter (Classification, Labelling and Packaging), das ist die Verordnung zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stoffen und Gemischen. Die CLP-Verordnung hat kein eigenes Kriterium, um Stoffe, die hormonell wirksam sind, mit einem eigenen Gefahrenzeichen auszuweisen. Solange es keine eigenen Kriterien für die hormonelle Wirksamkeit gibt, gelten Stoffe, die als reproduktionstoxisch (Kategorie 2) und karzinogen (Kategorie 2) eingestuft sind, als hormonell wirksam. Die EU-Kommission hat eine Reihe von Workshops unter breiter internationaler Beteiligung organisiert, Studien in Auftrag geben und eine Roadmap zur Beschränkung der hormonell wirksamen Stoffe beschlossen. Die größte Aufgabe liegt aber noch vor ihr: die Kriterien, wie hormonelle Stoffe als solche erkannt werden können, zu definieren. Im Dezember 2013 wollte die EU-Kommission Kriterien für die Definition und Einordnung von hormonell wirksamen Stoffen vorlegen. Im Jänner 2014 verkündete die Kommission eine Verschiebung der Entscheidung um mindestens ein Jahr. Die schwedische Umweltministerin Lena Ek will den Druck auf die EU-Kommission erhöhen und hat im Mai 2014 eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) angedroht. Wie die Sache ausgeht, ist bedeutend für die Gesetzgebung in Österreich und allen Mitgliedstaaten der EU.